Am 30. März 1843
[3.4.1] Die junge Rednerin aber, welche Mira hieß, bemerkte gar bald, welche Sensation ihre wenigen Worte bei den Weibern erregt hatten, und dachte sich: „Was soll nun aus dieser Erscheinung werden? Die Mütter und Schwestern sind nun auf einmal ganz verstummt, aus einer jeden Angesicht starrt große Angst und ein namenloser Schreck!
[3.4.2] Es muss denn doch etwas geschehen, in solch einem beklagenswerten Zustand kann man die sonst würdigen Mütter und lieben Schwestern denn doch nicht belassen!
[3.4.3] Ich weiß schon, was ich tun werde! Ich werde gerade allein zum Henoch hingehen, da die Mütter und Schwestern sich nun nicht weiter hingetrauen, und will da eine Fürsprecherin machen; der wird die nun gar stark erschrockenen Mütter schon wieder zurechtbringen! Ja, das ist ein recht gescheiter Gedanke von mir, daher ihn nur auch geschwind in die Ausführung gebracht!“
[3.4.4] Gedacht und getan, war bei der Mira schon von jeher die gute Art; daher ging sie denn auch alsogleich hin und zeigte solches alles dem Henoch an.
[3.4.5] Der Henoch aber sagte zu ihr, sie gleichsam zur Rede stellend: „Ja, warum aber hast du also vorlaut geredet und hast dadurch die Mütter und Schwestern in eine solche Angst versetzt?
[3.4.6] Siehe, wie du jetzt allein den Weg zu mir gefunden hast, also hättest du ihn ehedem finden sollen und mir im Namen des Herrn kundgeben die Irrung der Mütter und Schwestern, so hätte sich die Sache auf dem Wege der alleinigen Liebe beilegen lassen; jetzt aber, da du auf deine etwas zu rasche Art den Müttern und Schwestern ein förmliches Gericht bereitet hast, geht es nicht so leicht, wie du etwa meinen möchtest!“
[3.4.7] Da die Mira solches vom Henoch vernommen hatte, erwiderte sie ihm ohne Furcht: „Vater Henoch, du bist freilich wohl ein Weiser, und dazu noch der alleinige vom Herrn Selbst fest bestellte Hohepriester; aber ich meine da gerade nicht gefehlt zu haben, denn man muss ja doch die Rechte Gottes mehr achten als die Rechte der Menschen, so diese nicht mit den göttlichen übereinstimmen!
[3.4.8] Die Mütter und die Schwestern aber haben sich in einem blinden Eifer vergessen, wie es bei den Weibern schon öfter so der Fall ist, und haben dem göttlichen Recht entgegen unter sich falsche Behauptungen aufgestellt; und da mir das doch notwendig zuwider sein musste und ich es zufolge meines inneren Rechtsgefühls nicht länger habe ertragen können, dass der allerheiligste, beste Vater noch länger solle also geschmäht werden in Seinen männlichen vollkommensten Ebenmaßen, so trat ich denn auch auf und sagte ihnen bloß nur meine Meinung. Für das aber, dass meine wenigen Worte die Mütter und Schwestern gar so betrüben sollten, kann ich ja nicht dafür und darum!
[3.4.9] Daher musst du, lieber Vater Henoch, mir nicht gram werden; denn ich habe es ja nur zu gut, aber nicht im Geringsten böse gemeint!
[3.4.10] Siehe, dass ich den Müttern und Schwestern gewiss von ganzem Herzen gut bin, kannst du daraus ja schon ersehen, dass ich – trotz dem, dass auch mir der herrliche Mann gewinkt hatte, gleich den anderen vieren mich zu ihm zu begeben, und ich auch sogleich einen nahe unwiderstehlichen Drang, solches zu tun, in mir empfand, dennoch aus Furcht und Achtung bei den Müttern und Schwestern verblieb.
[3.4.11] Doch aber sage ich dir, lieber Vater Henoch, jetzt auch ganz bestimmt: Wenn jener Mann noch einmal mir winkte, zu ihm zu kommen, so ließe ich nicht nur alle Mütter und Schwestern augenblicklich sitzen, sondern die ganze Welt, und eilte schnurgerade zu ihm hin; denn hinter dem Mann ist mehr als nur ein alleiniger Mann! Das weiß ich ganz bestimmt!“
[3.4.12] Hier sagte der Henoch zur Mira: „Höre, du bist ja ganz entsetzlich gescheit, wie nicht leichtlich eine deines Geschlechts! Daher sollte es dir, so du die Mütter und Schwestern so recht vom ganzen Herzen liebhast, ja auch gar nicht schwer werden, ihnen mit deiner Gescheitheit zu helfen?!“
[3.4.13] Und die Mira erwiderte dem Henoch: „Ja, lieber Vater Henoch, nach deiner stets ausweichenden Rede zu urteilen, so wird mir am Ende ohnehin sonst nichts übrigbleiben. Hab mir’s auch schon unterwegs gedacht, dass bei Euch eben der Erbarmung höchste Stufe nicht zu treffen sein dürfte. Wenn ich nur zu jenem Mann kommen könnte; der würde mich sicher eher erhören als Ihr!“
[3.4.14] Und der Henoch entgegnete ihr: „Nun gut; siehe, der Mann ist in der Hütte, und die Tür ist offen! Ich will es dir nicht vorenthalten, bei Ihm Hilfe zu suchen; du magst daher schon zu Ihm gehen, so du glaubst, dass Er dich eher erhören wird denn ich!“
[3.4.15] Und die Mira sagte: „O wenn ich das nur darf, da ist es mir nicht im Geringsten bange!
[3.4.16] Freut euch, ihr armen Mütter und Schwestern, es soll euch ohne Henoch geholfen werden!
[3.4.17] Daher nur Mut; der herrliche Mann hat sicher ein besseres Herz als Ihr, lieber Vater Henoch, und wird mich nicht so ausfehnen, so ich ihm meine Not klagen werde, sondern helfen!“
[3.4.18] Hier ging sie ernstlich in die Hütte.
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