[2.222.1] Sagt der Erzbischof Migazzi: „Warte ein wenig, da muss ich ein wenig nachdenken, um dir eine würdige Antwort geben zu können.“ – Hierauf legt der Erzbischof drei Finger der rechten Hand auf seine Stirn, reibt diese recht tüchtig auf und ab und hin und her und sagt in sich zu sich: „Bei meinem armseligsten Leben, dieser Joseph ist am Ende orthodoxer als ich, der ich doch ein Erzbischof und Kardinal zugleich bin! Und so ich mich nicht genierte, wäre ich beinahe genötigt, das anzunehmen, was er mir von diesem Juden vorsagte. Wenn ich allein wäre, so wäre es auch schon geschehen. Aber meine sehr zahlreichen Kollegen, die hier mit mir diesen Vatikan bewohnen, würden über mich ja alle Teufel aus der Hölle heraufbeschwören, wenn ich so was täte. Hm, hm, hm! Wenn ich nur wüsste, was da rechtens zu machen wäre. Meine Kollegen, die ohnehin immer einen Spitz auf mich haben, bewachen mich mit Argusaugen und behorchen mich mit Midasohren. Ich dürfte nur eine Miene machen, mich an diese Gesellschaft anzuschließen, so würden die Kerls sogleich also über mich herfallen, wie die hungrigsten Hunde über einen schweißenden Hasen. O Joseph, du hast ganz recht in allem, was du über Rom gesagt! Es ist so und nicht anders, das weiß ich am besten! Aber was kann einer machen, der eben auch zu ihrem Gremium gehört?
[2.222.2] Man muss dem Volk einen großartigen blauen Dunst vor die Augen machen, Handlungen verrichten, die einem zum Speien fade und dumm sind, und dem Volk etwas glauben machen, was man selbst doch um alle Schätze der Welt nicht glauben könnte. Man muss sich ferner mit einem gottähnlichen Nimbus umgeben, während man im Grunde bei Weitem unter dem Wert eines Sauhalters steht. Denn was ist man denn als ein Erzbischof und Kardinal? Nichts, gar nichts! Man kann nichts, man weiß fast nichts mehr von allem dem, was man in den Studien gelernt hat. Und auf der erzbischöflichen Höhe lernt man auch nichts mehr als höchstens seine Finanzen in der sehr interessierten Ordnung zu erhalten und sein hochkirchliches Regiment mit einer alles zermalmenden Hochwürde zu versehen und die Hölle stets offener zu halten als den Himmel. Das ist das hohe Amt eines Erzbischofs! Man stellt einen Apostelissimus vor, dem schon quasi vor dem natürlich blinden Volk die Gottheit Selbst gehorchen müsste, und ist aber in und bei sich selbst in re vera [in Wahrheit] im Grunde des Grundes gar nichts, ja ein diplomiertes Nichts, das vor allem Volk in den höchsten, gottähnlichen Ehren dasteht, vor sich selbst sich aber doch offenbar insgeheim ärger schämen muss als ein Bettpisser, indem man sich doch bei nur irgendeinem Gewissen alle Tage hundertmal ins Ohr raunen muss: ‚Du bist nichts! Denn das was du vorstellst, ist an und für sich nichts! Ohne Schuster und Schneider könnten die Menschen schwer bestehen, aber ohne einen Erzbischof unendlich leicht!‘ Das ist eine unbestreitbare Wahrheit; aber wer dürfte es wagen, sie offen auszusprechen? Darin liegt eben der große Höllenhund begraben, dass selbst des redlichsten Priesters Mühe dahin gerichtet sein muss, das Nichts als ungeheuer Großes aufrecht zu erhalten und es stets für großes Geld an das dumme Volk zu verkaufen. Wahrlich, ein schönes Geschäft für einen Ehrenmann!
[2.222.3] O Joseph, du hast recht! Aber ich darf dir nicht recht geben. Denn gäbe ich dir recht, so werden sie über mich herfallen von allen Seiten und Winkeln und mir den Mund gehörig zu stopfen verstehen. Hm, hm, hm, wenn ich nur wüsste, wie ich mich aus den Schlingen dieser meiner Lauskollegen losmachen könnte! Mit dem größten Vergnügen täte ich’s. Nicht nur diesen recht ehrlich aussehenden Juden, der, neben Joseph stehend, sich mit einem Mann und Weib bespricht, sondern einen jeden Schusterjungen möchte ich als einen Halbgott mir gegenüber verehren und anbeten, der ich im Grunde gar nichts bin. Aber meine allerfinstersten und bösesten Kollegen! O Gott, wie würde mir’s da ergehen? Ich weiß, mein lieber Freund Joseph, so gut als du, dass ich dem Leib nach gestorben bin und mich schon bei sechzig Jahren und vielleicht schon darüber hier in der Geisterwelt befinde, obschon ich auf der Welt nicht daran geglaubt habe, dass so was möglich wäre. Aber wehe mir, wenn ich vor meinen Kollegen so was fallen ließe! Ich glaube, die Kerls würden mich vor Wut und Grimm in Stücke zerreißen, weil sie noch immer in der vollen Idee leben, dass sie noch Erzbischöfe und Kardinäle auf der Erde sind.
[2.222.4] O Joseph, helfe mir von meinen Kollegen, und du sollst deinen Migazzi gleich in einem anderen Licht erblicken. Migazzi war nie ein Freund Roms in seinem Herzen, musste aber äußerlich tun, als wäre er es. Auch du, guter Joseph, kanntest deinen Migazzi nicht. Aber dein Migazzi kannte dich und bot dir auch stets, so viel es möglich war, die hilfreiche Hand. Aber es ist traurig, dass ich mit dir anders reden muss, als ich denke und so ganz eigentlich mit dir reden möchte. Du kennst Rom wohl; aber ich kenne es besser. Du kennst nur, was du gesehen und gehört hast; aber ich kenne den Grund, auf dem Rom steht; den kannst du nicht kennen – und siehe, eben darin liegt der große Höllenhund begraben. Solange über den nicht ein Herkules kommt und ihn um seine Köpfe kürzer macht, wird es nie vollends Tag auf der lieben Erde werden.“
[2.222.5] Auf dies Selbstgespräch macht der Erzbischof einen Seufzer und sagt zum Joseph: „Lieber Freund, ich habe dich auf eine würdige Antwort ein wenig zu warten geheißen. Du hast darauf auch ganz geduldig gewartet. Aber ich kann dir dennoch trotz all meines Denkens keine Antwort geben. Denn es gibt Dinge zwischen dem Mond und der Sonne, von denen sich noch keine menschliche Weisheit etwas träumen hat lassen. Ich hoffe, du wirst mich verstehen?“
[2.222.6] Sagt Joseph: „Ja, ja, ich verstehe dich, und in diesen Räumen gibt es noch eine große Menge Erzpfaffen, vor denen du eine unsägliche Furcht hast, die aber ebenso eitel und leer ist, als deine erzbischöfliche Hochwürde. Siehe, der Herr hat mir das Ohr meines Herzens aufgetan und ich vernahm deine Gedankenrede; daher du mir nun denn auch keine Antwort mehr zu geben brauchst, indem ich die Antwort schon habe. Von nun an aber bist du auch ganz mein liebster Freund, und der Herr hier wird das an dir gutmachen, was dir noch fehlt. Lasse aber ab von der törichten Furcht vor deinen finsteren Kollegen. Sie werden dir nichts tun; dafür stehe ich dir! Ihretwegen sind wir auch nicht hierher gekommen, sondern deinetwegen, weil ich dich kenne. Bist du unser, dann sind wir hier aber auch schon fertig! Wende dich aber nun an den Herrn! Er wird dich mit einem Wort ganz gesund machen! Gehe und tue das!“
(Am 23. Juli 1850)
[2.222.7] Spricht der Erzbischof: „Lieber Freund Joseph! Du weißt, dass ich mit dir in allem, was mein Innerstes betrifft, vollkommen einverstanden bin, was du als recht, gut und wahr erkennst; nur mit dem, dass dieser dein sonst überaus bieder aussehender Abrahamssohn – Jesus, der göttliche Meister aus Nazareth sei, kann ich mich noch nicht ganz einverstehen! Jesus, der Herr, sollte denn doch etwas von der Herrlichkeit Seines himmlischen Vaters durchblicken lassen. Aber bei diesem da schaut doch ebenso wenig irgendetwas Göttliches heraus, als wie bei sonst was immer für einem ganz gewöhnlichen Menschen.
[2.222.8] Aber sei ihm nun, wie ihm wolle, Christus, der Gesalbte Gottes, der wahre Hohe-Priester in Ewigkeit, ist die Liebe Gottes zu den Menschen. So Er mir armen Sünder vor Ihm die Liebe erweisen wird, so ist Er dann aber auch um alles, was du haben willst, mein Christus und mein Heiland in Ewigkeit, und wäre Er auch im Kostüm eines Schusterjungen vor mir! Erweist Er mir aber keine Liebe und wird Er mit mir verfahren wie ein römischer Pfaffe, dann gebe ich nichts für Ihn.
[2.222.9] Leider war ich selbst auch ein römischer Hoch-Pfaffe und musste auch von der alleinseligmachenden Kirche predigen und alles verdammen, was nicht vor der Tiara die Knie beugte. Aber gottlob, wie du immer sagst, mir war es bei solchen Verdammungen wohl ebenso wenig Ernst als wie bei einem Vater, der auch zu seinen Kindern äußerlich hindonnert: ‚Wenn ihr nicht brav sein werdet, so werde ich den schwarzen Juden kommen lassen; der wird euch mit Ketten binden und euch in einen finstern Wald bringen und daselbst umbringen!‘ – So ungefähr war es mir bei solch einer Verdammungspredigt zumute. Denn fürs Erste glaubte ich doch durch mein ganzes Leben nie an ein Fegfeuer und noch weniger an eine Hölle, weil ich weder das eine und noch weniger das andere mit der göttlichen Liebe und Weisheit in eine Übereinstimmung bringen konnte. Und fürs Zweite liebte ich die Menschen zu sehr, als dass es mir je Ernst sein könnte, auch den bösesten aus ihnen auf ewig zu verdammen.
[2.222.10] Denn auch der Böseste hat nur eine gewisse Zeit hindurch böse sein können, und besaß höchstwahrscheinlich ein solches Naturell, nicht anders handeln zu können. Wird ein solcher Bösewicht nach genauer Durchsuchung seiner Natur, seiner Erziehung, der Handlungsbeweggründe, der Umstände, in denen er sich befand, zu einer zweckmäßigen Strafe zeitlich verurteilt, entweder auf der Erde schon oder nach dem Abfall des Fleisches hier im Reich der Geister auf so lange, als er sich vollends bessert, dann ist eine Strafe gut und gerecht. Aber eine ewige Strafe für ein zeitliches Vergehen kann doch unmöglich je angenommen und noch viel weniger von der höchsten Weisheit und Liebe Gottes angeordnet sein! Denn so was ziemte wohl einem Erztyrannen, aber einem Gott der Liebe ewig nimmer.
[2.222.11] Du siehst hieraus, dass ich in mir durchaus kein eigentlicher Pfaffe war; denn davor bewahrten mich meine durch und durch philanthropischen Grundsätze. Finde ich nun Christus, wie Er ist, und nicht wie Ihn Rom predigt, so ist Er Christus auch im Gewand eines Schusterjungen. Ist Er aber Christus nach römischer Art, dann sei uns gnädig und barmherzig, wer da wolle! Denn dann ist unser Los entschieden – die ewig lichterloh brennende Hölle, aus der natürlich ewig kein Ausweg mehr zugelassen wird. Guten Appetit, wem solch eine Gerechtigkeitskost schmeckt. Ich für meinen Teil schaffe [halte] ewig nichts davon und wünsche mit dem vollsten Ernst von der Welt aller Geister mit solch einem Christus ewig nicht zusammenzukommen. Denn der kann mir, wie die lustigen Wiener sagen, mit Haut und Haaren gestohlen werden.“
[2.222.12] Sagt Joseph: „Bin ganz deiner Ansicht und deines Verlangens! Aber bei eben Diesem wirst du das finden, was du finden willst – einen Herrn, der dir wie uns allen vollends ans Herz gewachsen ist. Kurz, einen weiseren und besseren Christus kannst du dir in Ewigkeit nicht denken und noch viel weniger wünschen, als wie dieser allein wahre und einzige es ist. Dass aber auch ich keinen rachesüchtigen Strafgott mir je denken habe können, sondern nur einen weisen und milden Vater voll ernster Liebe, beweist ja mein mildes Strafgesetz, da ich die entsetzliche Todesstrafe gänzlich aufhob und selbst die gröbsten Verbrecher nur mit solchen Strafen belegte, durch die sie wieder zu Menschen werden konnten. Die Todesstrafe ließ ich bloß am Anfang an ein paar gar zu teuflisch mutwillig allergrässlichst bösesten Verbrechern vollführen. Der eine hatte sein Weib oder seine Geliebte, was sie sein mochte, bloß aus Mutwillen bei lebendigem Leib anatomiert [zerlegt] und die Leibesteile dann zur nächtlichen Weile auf den Gassen herum zerstreut. Und der andere war ein Herzblutsauger, ein Vampyr in optima forma. Bei diesen beiden musste ein Beispiel statuiert werden. Und dennoch gereuete es mich nachderhand. Hätte ich sie zum Galeerenzug gegeben, so hätten sie vielleicht auch noch können zu Menschen umgewandelt werden. Aber nicht so sehr ich, als vielmehr das Volk verlangte die Hinrichtung dieser Ungeheuer, und so dachte ich: Vox populi, vox dei [Die Stimme des Volkes ist Gottes Stimme] und ließ sie exemplarisch töten. Ob ich da vollends recht gehandelt habe, weiß ich kaum. Aber das weiß ich, dass ich dabei durchaus keinen argen und rachesüchtigen Willen hatte. Du siehst also hieraus…“
[2.222.13] Hier unterbricht den Joseph der Erzbischof und sagt: „Ja, ja, ja, ich sehe, dass du ein vollkommen edelster Regent warst und ein echter Mensch nach dem Willen Gottes! Und so denn nehme ich denn auch diesen deinen Freund als Christus an, und möge mir nun schon geschehen, was da nur immer wolle. Meine Kollegen werden nun bald ein Zetergeschrei erheben und wie die Teufel über mich herfallen. Aber Migazzi wird bleiben bei dem, was er nun angenommen hat. Ich höre, sie schon kommen! Nun, das wird eine saubere Mette werden!“
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