[1.14.1] Als er (Robert) nun da fest vor Mir steht, betrachtet er Mich vom Kopf bis zu den Zehenspitzen und findet in Mir richtig und ganz unverkennbar den Jesus, den er da zu finden glaubte, und zwar im selben dürftigen Anzug und auch mit den Wundmalen, wie er sich seinen Jesus gar oft in seiner Phantasie ausgemalt hatte.
[1.14.2] Nachdem er Mich eine Weile ganz stumm betrachtet, fangen ihm Tränen aus seinen Augen zu rollen an, und er spricht nach einiger Fassung voll des innigsten Mitleids:
[1.14.3] „O Du lieber, Du größter Menschenfreund, der Du Herz genug hattest, sogar Deinen grausamsten Henkern und ihren Knechten die schändlichste Unbill, die sie an Dir begingen, von ganzem Herzen zu vergeben, und das bloß darum, da Du aus Deiner Menschengröße ihre sicher totalste Blindheit als den gültigen Entschuldigungsgrund annahmst.
[1.14.4] Aber wie hart muss dabei die Gottheit, Dein so oft gerühmter und über alles gelobter und angebetetster Vater sein, so Er irgendwo ist, dass Er Dich, den edelsten, den vollkommensten und besten aller Menschen nun nahe schon 2.000 Jahre also in dieser ewigen finstern Leere herumschweben lässt, in derselben dürftigsten Armseligkeit, in der Du von Deiner Kindheit an zum reinsten und alleredelsten Menschenfreund heranwuchsest!?
[1.14.5] O Du mein allerbester und aller Liebe würdigster Meister Jesus! Wie sehr bedauere ich Dich einerseits, und wie sehr liebe ich Dich darum aber auch andererseits, eben dieser Deiner bis jetzt noch gleichen Armseligkeit wegen! Denn sieh, wärst Du mir in einem nur einigermaßen seligeren Zustand entgegengekommen, so hätte es mich wahrlich geärgert, dass ein Geist wie Du nach dem Abfall des Leibes nicht sogleich zur höchsten Auszeichnung gelangen soll, wenn es irgendeine höchste und allgerechte, vergeltende Gottheit gibt!
[1.14.6] Aber da ich Dich hier gerade so noch antreffe, als wie Du die Erde verließest, so scheint die Sache der Wesen und ihrer Verhältnisse eine ganz andere zu sein, als wie wir sie uns vorstellen. Und weil diese Sache sicher eine ganz andere ist und auch sein muss, so erscheint dieser unser Zustand nach der Ablegung des Leibes als eine in und aus sich bedingte Notwendigkeit, durch die wir freilich erst nach weit hinaus gedehnten Zeitläufen das an uns werden realisieren können, was in unserem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen als Basis unseres Seins durch sich selbst gegeben ist.
[1.14.7] Von diesem Standpunkt aus Dein und mein gegenwärtiges Sein betrachtet, erscheint es dann freilich insofern noch immer bedauernswürdig, weil die Realisierungsfähigkeit dessen, was wir in uns aus den erworbenen Erkenntnissen zur klaren Vorstellung gebracht haben, unberechenbar weit hinter der Macht unseres Willens liegt. Allein, um die werden-sollende Realisierung unserer klaren Vorstellungen mit der Schwäche unseres Willens, oder vielmehr mit der Schwäche der Macht desselben, in eine erträgliche Ausgleichung zu bringen, besitzen wir in unserem Gemüt freilich zum größten Glück eine Art Lethargie, die wir im bürgerlichen Leben Geduld nennen. Diese macht uns unseren Zustand wohl erträglich; aber freilich wird sie manchmal auf eine Probe gestellt, von der wir beide uns sicher so manches für ewig werden zu erzählen wissen!
[1.14.8] Liebster Freund, ich hätte Dir nun, so gut als es mir in diesem Zustand nur immer möglich ist, mein treues und wahres Bekenntnis abgelegt. So Du mich dagegen auch für würdig hältst, da gebe auch Du mir kund, was Du nun von diesem unserem, in jedem Fall noch sehr misslichen Zustand hältst und denkst? Nur durch unsere gegenseitige Mitteilung, wie es mir vorkommt, werden wir uns eine lang gedachte Zeitenfolge angenehmer und erträglicher machen, als sie sonst selbst an unserer diamantenen Geduld vorübergleiten würde! Sei liebster, edelster Menschenfreund demnach so gut und eröffne vor mir Deinen für mich wenigstens ganz gewiss heiligsten Mund!“
[1.14.9] Rede Ich (Jesus), dem Robert die Hand reichend: „Sei Mir recht vielmal gegrüßt, du Mein lieber, teurer Leidensgefährte! Ich sage dir, sei du froh, dass du Mich gefunden hast und kümmere dich ums Weitere gar nicht. Es ist genug, dass du Mich liebst und nach deinen Erkenntnissen für den edelsten und möglichst weisesten Menschen hältst, alles andere lasse von nun an aber nur ganz Mir über; und Ich gebe dir die heiligste Versicherung, dass am Ende alles, und mögen uns noch was immer für Begebnisse entgegenkommen, gewiss überaus gut ausgehen wird! Denn Ich habe nun hier in dieser Einsamkeit alles durchdacht und durchgemacht und kann dir auch mit der größten Bestimmtheit sagen, dass Ich eben im Gebrauch der dir am schwächsten vorkommenden Willensmacht es so weit gebracht habe, dass Ich nun, so Ich’s will, alles ins Werk setzen kann, was Ich nur immer Mir denke und vorstelle. Dass Ich aber dessen ungeachtet hier dir so wie verlassen und sehr einsam vorkomme, davon liegt der Grund bloß in deiner für diese Welt noch etwas unvollkommenen Sehe; wird diese mit der Weile mehr und mehr gestärkt durch deine Liebe zu Mir, so wirst du auch bald einsehen, wie weit Meine Willenskraft zu reichen imstande ist.
(Am 20. Dez. 1848)
[1.14.10] Aber abgesehen nun von all dem, was du ehedem zu Mir gesprochen hast, und was Ich nun zu dir geredet habe, richte Ich bloß eine ganz ernste und bedeutungsvollste Frage an dein Gemüt, die du Mir aber auch ohne Rückhalt ganz getreu zu beantworten hast, und zwar gerade so, wie es dir ums Herz ist!
[1.14.11] Die Frage aber lautet also: Siehe, liebster Freund und Bruder, du hast auf der Erde einen ganz redlichen Sinn gehabt – deine Brüder nämlich von dem zu übermäßigen Druck von Seiten ihrer harten und herzlosen Regenten zu befreien; obschon du dazu eben nicht die tauglichsten Mittel dir erwählt hast! Allein Ich sehe da wohl nur allein auf den Zweck und sehe weniger aufs Mittel; wenn dieses nur wenigstens so geartet ist, dass es kein grausames genannt werden kann, dann ist es vor Mir wenigstens auch schon recht und billig! Aber so viel es Mir bekannt ist, so bist du auf halbem Weg zur Realisierung deines guten Zwecks von deinen Feinden ergriffen und bald darauf durch Pulver und Blei hingerichtet worden. Dass dich dieses traurige Begebnis bis in dein Innerstes allerzornsprühendst muss ergriffen und mit einer billigen Rachgier dein Herz erfüllt haben, das finde Ich so ganz natürlich, dass sich darob geradewegs gar nichts einwenden lässt! Wenn du aber nun jenen österreichischen Feldherrn, der dich ergreifen ließ und selbst zum Tod verurteilte, unter deine nun etwa schon sehr mächtig gewordenen Hände bekämst und nebst ihm auch alle seine Helfershelfer, sage Mir so ganz getreu, was wohl würdest du mit ihnen tun?“
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