Am 24. Januar 1844, abends
[21.1] „Selig aber sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören!“
[21.2] Was möchtet ihr wohl meinen, was dieser Text besagt? Ihr sagt da sogleich: „Wir wissen es nicht!“
[21.3] Denn so ihr sagen würdet: „Wir wissen es!“, da würdet ihr offenbar lügen. Denn ihr müsst zuvor erst den Text im äußeren Buchstabensinn recht genau betrachten. Findet ihr den Text nach dem gewöhnlichen Verständnis sehr klug, so seid ihr der Wahrheit und dem Licht, das in diesem Text steckt, noch fern. So ihr aber findet, dass dieser Text für den gewöhnlichen Verstand ein Unsinn ist, so seid ihr der Wahrheit und dem Licht dieses Textes um vieles näher.
[21.4] Es dürfte hier freilich mancher Witzler sagen: „Mit dem bin ich einverstanden; und wer die ganze Bibel als einen Unsinn erkennt, der ist schon das Licht und die Wahrheit selbst.“ Aber in diesem weltwitzigweisen Sinne meine Ich es nicht, wenn Ich sage: „Ihr müsst den Text aus eurem Weltverständnis heraus erst als einen Unsinn finden, wollt ihr seinem Licht näherkommen.“
[21.5] Warum denn sage Ich solches? Weil dieser Text einen rein himmlischen Sinn hat, der allem Weltverständnissinn schnurgerade entgegen ist.
[21.6] Wie aber ist dieser Text nach dem Weltverständnis ein Unsinn? Hört, Ich will es euch kundgeben.
[21.7] Ihr wisst, dass in euch nur das Herz oder die Liebe allein des Wonnegefühls oder irgendeiner Seligkeit fähig ist; und das aus dem Grunde, weil eben nur die Liebe oder der Geist im Menschen allein das Leben und somit auch allein nur jeder Empfindung fähig ist. Und somit kann die Seligkeit nicht auch auf das Auge und das Ohr taugen; denn das Auge und das Ohr sind nur Sinneswerkzeuge, die lediglich dem Geist zu seinen lebendigen Verrichtungen dienen müssen, und es kann weder das Auge noch das Ohr für sich je einer Seligkeit fähig sein, wohl aber der Geist durch das Auge und durch das Ohr, wie auch noch durch die anderen Sinneswerkzeuge.
[21.8] Wenn es demnach in dem Text heißt: „Selig die Augen, die das sehen; und selig die Ohren, die das hören!“, so ist damit dem Weltverständnis nach offenbar etwas Widersinniges gesagt. Nun wollen wir aber sehen, ob es sich mit der Sache auch so verhält.
[21.9] Die gewöhnlichen, etwas besseren Weltchristen verstehen das so, als wären nur diejenigen Augen selig und ebendieselben Ohren, die Mich bei Meinen Lebzeiten auf Erden gesehen und gehört haben, und man sagt, das Ganze sei nur eine etwas schönere Redefigur, in der man das Zeichen statt der Sache setzt, Teile eines Ganzen für das Ganze selbst, oder wie sich die Redekünstler gelehrter ausdrücken: Signum pro re; pars pro toto. [Das Zeichen für die Sache; der Teil fürs Ganze.] Im Grunde aber heiße es dennoch so viel als: Selig sind die Menschen, die Mich Selbst gesehen und gehört haben!
[21.10] Ist das nicht die rechte Erklärung, und nota bene aus dem Munde der besseren Weltchristen? Das ist sicher; aber Ich muss nur gleich daneben kundgeben, dass weder Ich noch der benannte Evangelist je die Rhetorik studiert haben und nahmen da gar keine Rücksicht auf irgendeine Synekdoche (Wortvertauschung), noch auf die allerlei Arten von Syllogismen.
[21.11] Unsere Redefigur hatte den alleinigen Namen: Innere göttlich-geistige Wahrheit. Und nach dieser Redefigur, die in Meiner Rhetorik vorkommt, gehört obenangeführter Text weder zur Synekdoche noch zu irgendeiner Art des Syllogismus; er ist auch keine Paraphrase und auch nicht ein Pro- und Epilog, sondern, wie gesagt, er ist eine reine, allerinwendigste, göttlich-geistige Wahrheit!
[21.12] Und diese besteht darin: Alle Menschen in der Welt haben gewöhnlich eine große Furcht vor dem Tode des Leibes, und das aus dem Grunde, weil sie weltlich sind und daher nichts erschauen können, was des Geistes ist, und auch nicht zu vernehmen imstande sind, was da wäre eine lebendige Lehre für ihren Geist.
[21.13] In diesem Text aber liegt eine himmlische Lobpreisung derjenigen, welche durch ein wahrhaftiges Liebeleben es dahin gebracht haben, dass die Welt mit ihrer Nacht wie eine schwere Decke von ihren Augen fiel und das Ohr ihres Geistes geöffnet ward, um zu vernehmen Meine Vaterstimme, und sagt im Ganzen so viel als: Glücklich sind die Wiedergeborenen! – Und in dieser Stellung bezieht es sich in gar keiner äußeren Bedeutung zurück auf allenfalls diejenigen Menschen, die Meine Landes- und Zeitgenossen waren, sondern die Beziehung erstreckt sich auf alle Menschen, die je auf der Erde gelebt haben und noch leben werden, wie auch auf die Bewohner aller anderen Welten.
[21.14] Denn alles muss geistig regeneriert werden, bevor es ins rein Geistige und somit ewig Lebendige, wahrhaft Beseligende eingehen will. Und so wird hier unter „Augen“ das Erkennen des Göttlich-Wahren und unter „Ohren“ das Insichaufnehmen desselben und Danach-Tätigwerden verstanden, und es heißt dann auch so viel als: Selig ist der Mensch in seinem geistigen Verständnis, so er das Göttlich-Wahre vollends erkennt; und wahrhaft selig ist er, wenn er das Göttlich-Wahre in sein Leben aufnimmt und danach ausschließend tätig wird. Denn dadurch erst wird er die Wiedergeburt des Geistes überkommen, aus welcher er ewig keinen Tod mehr sehen, fühlen und schmecken wird.
[21.15] Das ist also die richtige Bedeutung dieses Textes! Aber ganz irrig wäre dieser Text auf diejenigen angewendet, die mittels ihrer Augen recht viele Bücher durchschauen und durchlesen und suchen dadurch das Licht, oder auf jene Menschen, welche, wenn sie schon nicht lesen können, aber dennoch viele Predigten, Christenlehren und Beichtspiegel anhören; denn die gehen allzeit wieder aus der Predigt heraus, als wie sie hineingekommen sind.
[21.16] Ja, gar viele wissen schon oft an der Türschwelle des Bethauses kein Wort mehr, was da gepredigt ward, und bei so mancher Predigt sind die Ohren der Zuhörer nichts weniger als selig, besonders wenn manches Mal ein eben nicht von zu viel Bruderliebe behafteter Prediger seinen Zuhörern die Hölle so heiß als möglich und den Weg zum Himmel aber überaus schmal, steil und dornig ansetzt, dass am Ende seinen Zuhörern beinahe die Wahl schwer wird, welchen Weg sie wandeln sollen und also denken: „Die Hölle ist zwar heiß; aber es führt ein überaus bequemer Weg dahin. Der Himmel bietet wohl die höchste Seligkeit; aber wer mag ihn erreichen, wenn er nur auf so einem nahe unmöglich besteigbaren Weg zu erreichen ist?“
[21.17] Also dergleichen Ohren dürften gerade nicht die seligsten sein, ebenso wenig wie die Augen der Gelehrten, die zwar vieles sehen, aber das, was sie am liebsten erschauen möchten, dennoch nie zu Gesicht bekommen können. Darum sind nur selig, die sich der Wiedergeburt des Geistes befleißen und dieselbe auch stets mehr und mehr erreichen.
[21.18] Es wird aber niemand auf einmal wiedergeboren, sondern nur nach und nach; aber es fängt auch bei niemand der Akt der Wiedergeburt früher an, als bis er die göttliche Wahrheit zu erkennen hat angefangen, und niemand wird früher vollends wiedergeboren und zur vollkommenen inneren Anschauung und Anhörung des lebendigen Wortes gelangen, als bis er die Welt – was so ganz eigentlich die Sünde ist – freitätig aus sich verbannt hat. Und da erst kommt also im rein himmlischen Licht der angeführte Text in die tröstliche Anwendung, und alsdann erst sind auch die Augen selig, die das sehen, und die Ohren, die das hören.
[21.19] Ich meine, dieser Text wird auch wieder klar genug dargestellt sein. Trachtet daher auch ihr nach seiner Realisierung (Verwirklichung) in euch! Amen.
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