Am 20. Oktober 1843
[50.1] Nach dieser Anrede des Cyrenius fiel dem Maronius Pilla ein gewaltiger Stein von der Brust; der Puls fing an freier zu gehen, und er ward bald fähig, dem Cyrenius zur Rede zu stehen.
[50.2] Und als Cyrenius sah, dass der Maronius Pilla sich erholt hatte, fragte er ihn folgendermaßen:
[50.3] „Ich sage dir, gebe mir die gewissenhafteste Antwort darüber, worüber ich dich fragen werde! Denn jede ausflüchtige Antwort wird dir mein gerechtes Missfallen zuziehen! Und so vernehme denn meine Frage!
[50.4] Sage mir, kennst du die Familie, deren erstgeborenes Kind der sogenannte neue König der Juden sein soll?“
[50.5] Maronius Pilla antwortete: „Ja, ich kenne sie persönlich nach der Kundgabe der Judenpriester in Jerusalem! Der Vater heißt Joseph und ist ein Zimmermann ersten Rufes in ganz Judäa und halb Palästina und ist sesshaft nahe bei Nazareth.
[50.6] Seine Redlichkeit ist im ganzen Land, wie auch in ganz Jerusalem bekannt. Er musste vor ungefähr elf Monden ein reif gewordenes Mädchen aus dem jüdischen Tempel zur Obhut nehmen, ich glaube, durch eine Art Losung.
[50.7] Dieses Mädchen hat wahrscheinlich in Abwesenheit dieses biederen Zimmermanns etwas zu früh der Venus gehuldigt, ward schwanger, darob dann meines Wissens dieser Mann grobe Anstände mit der jüdischen Priesterschaft zu bestehen hatte.
[50.8] Insoweit ist mir die Sache wohl bekannt; aber mit der Entbindung dieses Mädchens – das da dieser Mann, um der Schande zu entgehen, die er von seinen Genossen zu befürchten hatte, noch vor der Entbindung zum Weib genommen haben soll – haben sich überaus mystische Sagen im Volk verbreitet, und man kann darüber nicht ins Klare kommen!
[50.9] Sie hat bei der Gelegenheit der Volksbeschreibung in Bethlehem entbunden, und zwar in einem Stall; so viel habe ich herausgebracht.
[50.10] Alles Weitere ist mir völlig unbekannt; solches sagte ich auch dem Herodes!
[50.11] Dieser aber meinte, Cornelius habe diese ihm von den Persern verdächtig gemachte Familie irgend im Volk verbergen wollen, um ihm den Lehnsthron streitig zu machen, da er wohl weiß, dass dein Bruder sein Freund nicht ist!
[50.12] Darum nahm er denn auch zu dieser exzentrischen Grausamkeit seine Zuflucht, um dadurch vielmehr dem Cornelius seinen Plan zu vereiteln, als so ganz eigentlich dieses neuen Königs habhaft zu werden.
[50.13] Er übte somit mehr aus Rache gegen deinen Bruder, als aus Furcht vor diesem neuen König, diese kindermörderische Rache aus. Das ist nun alles, was ich dir zu sagen weiß über diese sonderbare Begebenheit!“
Am 21. Oktober 1843
[50.14] Und der Cyrenius sprach weiter: „Bisher habe ich aus deinen Worten ersehen, dass du zwar die Wahrheit geredet hast; aber dass du dabei vor mir auch gewisserart den Herodes weißwaschen möchtest, ist mir keineswegs entgangen!
[50.15] Ich sage dir aber, wie ich geschrieben habe, die Tat des Herodes lässt sich durch nichts entschuldigen!
[50.16] Denn ich will es dir sagen, warum Herodes diese allerunmenschlichste Grausamkeit ausgeübt hatte.
[50.17] Höre! Herodes ist selbst der allerherrschsüchtigste Mensch, den je die Erde genährt hatte!
[50.18] Wenn er es könnte und einigermaßen nur eine entsprechende Macht dazu hätte, so würde er heute noch mit uns Römern, den Augustus nicht ausgenommen, das tun, was er mit den unschuldigsten Kindern getan hatte! Verstehst du mich?!
[50.19] Er hatte diesen Kindermord nur darum unternommen, weil er der Meinung war, uns Römern einen groß respektablen Dienst zu erweisen und sich dadurch als echter römischer Patriot zu zeigen, auf dass ihm der Kaiser mein Amt zum Lehnsfürstentum noch hinzu anvertrauen möchte;
[50.20] wodurch er dann gleich mir vice Caesaris unumschränkt mit dem Drittel der ganzen römischen Macht disponieren könnte und könnte sich dadurch dann auch von Rom ganz los und unabhängig machen, um als Alleinherrscher über Asien und Ägypten dazustehen.
[50.21] Verstehst du mich?! Siehe, das ist der mir gar wohlbekannte Plan dieses alten Scheusals; und wie ich ihn kenne, so kennt ihn nun auch Augustus!
[50.22] Nun aber frage ich dich bei deinem Kopf zum Pfand der Wahrheit, die du mir darüber zu erteilen hast, ob du von diesem Plan Herodis nichts gewusst hattest, als er dich zu seinem schändlichsten Werkzeug gedingt hatte?
[50.23] Rede! aber bedenke, dass dich hier jede unwahre ausflüchtige Silbe das Leben kostet! Denn mir ist in dieser Sache jeder Punkt auf ein Haar bekannt!“
[50.24] Hier ward der Maronius Pilla wieder zur Leiche und stotterte: „Ja, du hast recht, ich wusste auch, was der Herodes im Schilde führte.
[50.25] Aber ich fürchtete seinen argen Intrigengeist und musste darum tun nach seinem Verlangen, um ihm dadurch den Grund zu einer noch größeren Intrige zu zerstören.
[50.26] Ganz also durch und durch aber, wie ich den Herodes jetzt durch dich kenne, habe ich ihn ehedem doch nicht erkannt; denn hätte ich das, da lebte er nicht mehr!“
[50.27] Und Cyrenius sprach: „Gut, ich schenke dir im Namen des Kaisers zwar das Leben; aber in dein Amt werde ich dich nicht eher einsetzen, als bis deine Seele genesen wird von einer starken Krankheit! Bei mir hier wirst du gepflegt, deine Stelle aber wird einstweilen mein Bruder Cornelius versehen; denn siehe, ich traue dir nimmer! Daher bleibst du hier, bis du gesund wirst!“
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