Am 8. Jänner 1844
[110.1] In kurzer Zeit waren die königlichen Kleider für die Tullia herbeigeschafft, und sie ward mit denselben angetan, wie schon voran bemerkt ward.
[110.2] Maria aber nahm ihr Kleid wieder, wusch es, und behielt es dann wieder für sich.
[110.3] Cyrenius wollte der Maria freilich wohl auch königliche Kleider dafür geben;
[110.4] aber Maria wie Joseph lehnten solches feierlichst von sich ab.
[110.5] Da aber die Eudokia sah die Tullia in ihrer wahren Königspracht, da ward es ihr doch schwer ums Herz, dass sie heimlich zu seufzen anfing.
[110.6] Aber das Kindlein sprach leise zu ihr: „Eudokia, Ich sage dir, seufze du nicht der Welt wegen, sondern seufze du deiner Sünde wegen, so wirst du besser fahren!
[110.7] Denn siehe, Ich bin mehr als Cyrenius und Rom; hast du Mich, dann hast du mehr, als besäßest du die ganze Welt.
[110.8] Willst du aber Mich vollkommen haben, dann musst du bereuen deine Sünde, der zufolge du unfruchtbar wurdest.
[110.9] Wirst du aber in Liebe zu Mir deine Sünden bereuen, dann erst wirst du nach dem Maße deiner Liebe zu Mir erkennen, Wer Ich so ganz eigentlich bin!
[110.10] Wann du Mich aber erkennen wirst, dann wirst du glücklicher sein, als wärest du die Gemahlin des Kaisers selbst!
[110.11] Denn siehe, der Kaiser muss starke Wachen halten, auf dass er nicht vom Thron vertrieben wird.
[110.12] Ich aber bin Mir allein genug; Geister, Sonnen, Monde, Erden und alle Elemente sind Mir gehorsam; und dennoch brauche Ich keine Wachen und lasse Mich von dir dennoch auf den Armen tragen trotz dem, dass du eine Sünderin bist!
[110.13] Daher sei ruhig und weine nicht; denn du hast empfangen, was der Tullia abgenommen ward, da sie empfing die königlichen Kleider!
[110.14] Und das ist endlos mehr als jene goldschimmernden Königskleider, welche tot sind und den Tod bringen,
[110.15] während du das Leben auf deinen Armen trägst und den Tod ewig nimmer schmecken wirst, so du Mich liebst!“
[110.16] Diese Worte des Kindleins wirkten so sehr heilsam auf das Gemüt der Eudokia, dass sie vor gar großen Freuden hoher seligster Verwunderung zu weinen anfing.
[110.17] Maria aber bemerkte, dass die Eudokia in Freudentränen ihre Augen badete, ging darum zu ihr und fragte sie:
[110.18] „Holde Eudokia, was wohl ist dir, darum ich süße Tränen in deinen Augen entdecke?“
[110.19] Und die Eudokia erwiderte nach einem tiefen Wonneseufzer:
[110.20] „O du glücklichste der Mütter auf der ganzen Erde! Siehe, dein Kindlein hat zu mir wunderbar geredet!
[110.21] Wahrlich, nicht sterbliche Menschen in all ihrer Weltgröße, sondern nur Götter können solcher Worte fähig sein!
[110.22] Großer Gedanken und Ahnungen ist nun voll meine Brust. Wie aus einer verborgenen Tiefe steigen sie in mir gleich wie helle Sterne aus dem Meer empor; und darum weine ich vor Entzückung!“
[110.23] Maria aber sprach: „Eudokia, gedulde dich nur, nach den Sternen wird auch die Sonne kommen; in ihrem Licht erst wirst du erschauen, wo du bist! Aber nun still, denn Cyrenius kommt hierher.“
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