Am 5. September 1842
[2.151.1] Da der Fremde aber solchen Wunsch vom Henoch vernommen hatte, so machte er eine verwunderte Miene und sagte darauf zu ihm:
[2.151.2] „Lieber Henoch, das ist auch weise von dir; denn hast du einmal mein Urteil, so wirst du desto leichter mit einem eigenen Urteil fertig werden, besonders wenn es am Ende bloß nur auf ein Ja oder Nein ankommen möchte!
[2.151.3] Aber es fragt sich dann, ob dadurch jemand einen Nutzen ziehen wird!
[2.151.4] Denn in keiner Sache kann ein Mensch leichter überredet werden als gerade in derjenigen, die er selber nicht versteht.
[2.151.5] Denn da lässt er das Urteil entweder aus Unkunde gelten, oder er glaubt es der Autorität des Redners, begründet sich dann darinnen und mag dann nimmer zu einem [eigenen] Urteil gelangen.
[2.151.6] Solches aber heißt doch nichts anderes, als die Selbständigkeit seines Geistes vernageln und ein Maschinengeist eines anderen werden, oder das eigene Leben hintangeben für ein fremdes Scheinleben!
[2.151.7] Ich aber sagte dir aus meiner Erfahrung das, damit du dich von mir etwa nicht sollst überreden lassen, sondern nur davon das annehmen, was dir einleuchtend ist; und so sollst du keine Silbe annehmen, die du allein glauben müsstest, ohne sie im Geist zuvor bestimmt erfasst zu haben!
[2.151.8] Es gibt keinen schlimmeren Zustand für einen freien Menschen, als der da ist des Blindglaubens; denn ein solcher Glaube gebiert den wahrhaften Tod des Geistes.
[2.151.9] Wer da ist ein Blindgläubiger, der ist auch zugleich ein von irgendeinem ruhmsüchtigen Bruder gerichteter Geist.
[2.151.10] Wenn aber schon ein Gericht des lebendigen Gottes tötend ist, um wie viel mehr muss dann erst das eines toten Menschen sein, oder dessen, der da selbst nur ein Scheinleben hat?
[2.151.11] Siehe, aus dem Grunde ist dann ja ein eigenes Urteil um vieles besser – und sei es noch so kümmerlich – als ein angenommenes durch den alleinigen Glauben, für dessen Richtigkeit der frei sein sollende Geist keine andere Bürgschaft hat denn allein die Autorität des Predigers und die laue Genügsamkeit seiner eigenen Torheit.
[2.151.12] Welches alles aber vor Gott sicher ein Gräuel ist; denn Gott hat den Menschen erschaffen zu einem freien Leben, nicht aber, dass er sei ein träger Maulknecht irgendeines ruhmsüchtigen Predigers und dadurch eigennützigen Richters der Herzen frei sein sollender Menschen.
[2.151.13] So ich dir daher auch tue, was du dir von mir erbatst, darum ich dir einen Gefallen erweisen will, so nehme aber davon nichts an als nur das, was du nach tiefster Prüfung also befunden hast, als wäre es dein eigenes Urteil!
[2.151.14] Denn wenn dir jemand sagen möchte: ‚Tue dies oder jenes!‘, und du tust es, ohne dich nur im Geringsten zu bekümmern, warum und zu welchem Endzweck, so bist du schon zur Willensmaschine eines anderen geworden, darum du dich hast richten lassen; wenn du aber zuvor prüfst das Verlangen deines Bruders und hast den Endzweck frei in dir gefunden und hast auch gefunden, dass dieser ein würdiger ist, daher er Liebe zum Grunde hat, und dann tust, was dein Bruder von dir verlangt, so hast du gehandelt als ein freier Mensch und als ein wahrhaftes Gotteskind, nicht aber als ein gerichtetes Geschöpf.
[2.151.15] Denn das ist ja eben nach meiner Beurteilung der mächtige Unterschied zwischen den wahren Kindern Gottes und den Geschöpfen, dass die Kinder also frei tätig sein sollen, wie Gott, ihr Vater, Selbst frei tätig ist, und sollen eben darin vollkommen sein, wie Er Selbst vollkommen ist, darum sie sind Seine vollkommenen Ebenmaße!
[2.151.16] Können solches wohl etwa auch die Tiere? O nein, diese müssen allzeit des Schöpfers Willen vollziehen, denn ihre Natur selbst ist ja schon eine Trägerin des Willens des Schöpfers! Aber nicht also ist es mit den Menschen, die da gestellt sind zu wahrhaften Kindern Gottes.
[2.151.17] Ihnen wird erst der Wille Gottes geoffenbart, damit sie solchen zuerst mit dem eigenen freien Geist als den allein gerechten und wahren beurteilen, erkennen und dann erst wie zu ihrem Eigentum machen und danach handeln sollen!
[2.151.18] Wer die Offenbarung annimmt und handelt danach, indem er meint, er müsse danach handeln, der ist schon ein Gerichteter; denn er handelt nicht mit der Übereinstimmung des eigenen Willens mit dem göttlichen, sondern er handelt wie eine Maschine und ist und bleibt dabei dennoch tot, darum er sich nicht kümmert um die volle Erkenntnis dessen, was da ist der göttliche Wille und was dessen Ordnung, sondern so er etwas als den göttlichen Willen durch die Ohren erkennt – zumeist aus dem Munde eines Eigenrühmlers –, so tut er es, ohne zu beurteilen, wozu und warum.
[2.151.19] Siehe, solches aber ist ja an und für sich eine allerbarste Abgötterei; denn der Mensch richtet sich dadurch selbst oder lässt sich vielmehr richten – und somit auch töten!
[2.151.20] Und siehe, das ist demnach ja auch der Unterschied zwischen dem freien und genötigten Leben! Doch solches Leben ist noch nicht ein Tod der Sünde; denn die Sünde ist, die Wege der göttlichen Ordnung, insoweit sie geoffenbart sind, erkennen – und dann dem guten Urteil in sich freiwillig zuwiderhandeln.
[2.151.21] Siehe, solches ist dann auch der wirkliche Tod! Warum? Weil die Sünde ist eine barste Störung der göttlichen Ordnung, während kein Gericht dieselbe stört, sondern nur die Freiheit des Geistes hemmt!
[2.151.22] Siehe, lieber Henoch, das ist meine Ansicht; jetzt aber gebe du mir auch die deinige kund, damit wir dadurch zu einem Gemeinurteil gelangen mögen, durch das wir allein zur rechten Tat belebt werden können! Doch so du es willst! Amen.“
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