Am 15. Dezember 1841
[1.173.1] Als aber der Sethlahem solches vernommen hatte von dem hohen Abedam als natürlicher Augen- und Ohrenzeuge, da fing er an, Großes zu ahnen. Sein Herz brannte, und ein inneres Urteil sagte ihm: „Also, wie dieser Fremde spricht, wahrlich, also kann ja doch wohl kein Mensch sprechen! Hinter diesem Fremden muss etwas Außerordentliches stecken!“
[1.173.2] Nach diesem inneren Urteil und von diesem inneren Urteil geleitet und stark bestochen, trat der Sethlahem in der allerhöchsten Demut zum hohen Abedam hin und fragte Ihn:
[1.173.3] „Hoher Fremdling, der du voll bist von aller göttlichen Weisheit und scheinst auch nicht minder voll zu sein von göttlicher Kraft, so ich dich bitte, möchtest du von mir den kleinen Dienst annehmen, dass ich hinginge und zöge die hierher vor dein Angesicht, die da murren über die Einrichtungen Jehovas, ohne zu bedenken oder sich doch wenigstens aus dem Grunde belehren zu lassen, dass Jehova, der ewige, heilige Gott, solches alles, was da schon geschehen ist, jetzt geschieht und noch für ewig geschehen wird, schon sicher von Ewigkeit her vorgesehen und in einer Hinsicht, wenn es auch den freien Menschen betrifft, auch also bestimmt hatte?!
[1.173.4] Nach dem zu urteilen, was fürs Erste schon der Henoch mit treuem Wort mir von dir berichtet hatte, und was fürs Zweite ich jetzt selbst im Gespräch mit dem Henoch von dir vernommen habe, so wird ein Wort von dir bei diesen Murrern sicher mehr zu ihrer Besserung beitragen als tausend von mir.
[1.173.5] Denn eben diese sieben sind in allem genommen auch die Unbeugsamsten von der ganzen mittägigen Gegend.
[1.173.6] Wahrlich, Arges soll ihnen ja nicht geschehen; aber gebessert sollen sie vollends werden, ja gebessert müssen sie werden!
[1.173.7] So du also willst, will ich sogleich gehen.“ – Und der hohe Abedam erwiderte ihm:
[1.173.8] „Sethlahem, Ich sage dir, verstündest du Mein Wort, so würdest du auch verstehen, dass Ich deines Dienstes entbehren kann!
[1.173.9] Allein, da Ich dir ein Fremdling bin noch durch und durch, so magst du ja hingehen und tun, danach es dich gelüstet!
[1.173.10] Sollten dir aber etwa deine sieben Murrer nicht folgen wollen, dann magst du alsbald wieder allein umkehren und dich unverrichteter Dinge hierher begeben! Amen.“
[1.173.11] Und sogleich begab sich der Sethlahem zu den Murrern hin, die einige fünfzig Schritte von hier entfernt standen. Als er bei ihnen angelangt war, fragte ihn alsbald einer aus ihnen, etwas sich lustig machend:
[1.173.12] „Nu, um wie viel Hand Steine schwer bist du nun weiser geworden?
[1.173.13] Hat der Henoch dir etwa gar die gestrige versäuerte Parabel von den fernen Bergen gelichtet? Oder hat er dir vielleicht gar wieder einen neuen redenden Tiger vorgeführt?
[1.173.14] Ja, ja, bei Menschen deiner Art muss schon immer ein redendes Vieh zum Weisheitsprediger werden, denn Worte von unsereinem werden ohnedies für nichts mehr geachtet.
[1.173.15] Sethlahem, siehe, es ist wahrhaft jammerschade, dass diese Sturmnacht hindurch der große Sonderling Henoch nicht um dich war, da uns wenigstens einige Hunderte von den schönsten Tigern und noch viele andere Bestien die Ehre des Besuches gaben! Was hättest du von diesen langgeschweiften Waldweisen nicht alles lernen können, so sie der Henoch alle redend gemacht hätte!
[1.173.16] Wahrlich, das heißt in der Narrheit doch ein bisschen zu weit getrieben! Ein redender Tiger!
[1.173.17] Wenn das Ding so fortgeht, so werden längstens im nächsten Jahr auch Bäume und das Gras zu reden anfangen, wo nicht gar die Steine selbst und die Bäche, endlich gar das Meer!
[1.173.18] Und im dritten Jahr – glaube es nur fest, denn das ist dein Wahlspruch! – wird ein jeder vom Himmel fallende Regentropfen zu dir sagen: ‚Guten Morgen, weiser Sethlahem! Wie hast du geschlafen?!‘ Und solcher großer Weisheitsbrocken mehreres.
[1.173.19] Da erst wirst du schauen und deine Ohren stark in die Länge ziehen und deinen Mund noch weiter aufreißen als ein Tiger seinen Rachen, so er ganz sanft auf einen Biss einen Stier in seinen Magen spazieren lässt, und mit einer unendlichen Weisheitswundermiene sagen: ‚Was – ist – das?‘
[1.173.20] Sethlahem, siehst du denn die Torheit deiner Weisheitsträumereien noch nicht ein?
[1.173.21] Siehe, so von alters her nach der Aussage Adams, der noch lebt und allen Glauben als unser aller Vater verdient – vorausgesetzt, dass er der Erde erster Mensch ist; denn die Erde scheint größer zu sein, als dass sie anfänglich nur für einen Menschen hätte bestimmt sein sollen! –, alte, fromme Gebräuche üblich waren, warum soll daran etwas geändert werden, da noch dazu ohnehin für die wahrhaft verständig Weisen an dieser alten Zeremonie nichts gelegen ist als allein das Altersehrwürdiggeschichtliche? Wenn nun das wegfällt, sage, welchen anderen Wert kann wohl dieses wahre Kinderspiel für denkende Menschen haben?
[1.173.22] Oder möchtest oder könntest du wohl etwa als Weiser gar behaupten, Gott der Unendliche wird etwa gar eine Lust und Freude daran haben, so wir Ihm zu Ehren ein paar Holzprügel anzünden und dann die matte Flamme, welche ein geschlachtetes Schaf verzehrt, angaffen – dümmer noch vielleicht als das geschlachtete Schaf selbst?
[1.173.23] Wahrhaft, solche überdummen Begriffe von der Gottheit, von der zu zeugen zahllose Sterne und Sonnen als ein ewiges Opfer brennen, machen dem menschlichen Geist eine spottschlechte Ehre!
[1.173.24] Sage nun, Sethlahem, wenn du übrigens ein kleines Fünklein gesunden Verstandes besitzt, ob es nicht also ist, und ob du es nicht auch notwendig also findest, – vorausgesetzt, dass du etwa von irgendeinem gestreiften Waldweisen nicht eines Besseren belehrt worden bist! Denn was ein so auf einen Druck einen ganzen Stier fressender Beweis alles vermag, begreifen wir alle!
[1.173.25] Rede, rede nun, so du magst und kannst! Oder hast du vielleicht die blaufernen Berge nicht hinreichend verdaut? Oder kannst du etwa den Mund nicht weit genug öffnen?
[1.173.26] Siehe, wir haben ja keine solchen Ohren, die erst durch ein tigerartiges Gebrüll müssten gekitzelt werden, um deine neue henochische feine Weisheit zu vernehmen, sondern unseren menschlichen Ohren genügt noch eine gewöhnliche, menschliche Stimme; daher öffne nur wohlgemut deinen weisen Mund! Amen.“
[1.173.27] Wie es dem armen Sethlahem bei dieser spitzfindigen Rede zumute war, wird nicht schwer zu erraten sein, wenn man dazu noch bedenkt, dass er sich hier, ein wenig großtuend, etwas zugute hat wollen geschehen lassen; auf der anderen Seite er aber von der Rede des Fremden und auch der vom Henoch also durchdrungen war, dass er darob schon immer seine Blicke auf die Erde richtete, ob diese nicht etwa sich schon irgend zu öffnen beginne, um die so gewaltigen Lästerer zu verschlingen.
[1.173.28] Daher er aber auch kein Wort über seine Lippen zu bringen vermochte, sondern sich alsbald, wieder stark gedemütigt, umwandte und zum Henoch und dem Fremden eilte.
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