Am 15. Juni 1841
[1.106.1] Es hatten aber die beiden Folgenden, Kenan und Mahalaleel, vernommen von der Unterredung Jareds und Henochs; und also fing auch Mahalaleel den Kenan zu fragen an, sagend:
[1.106.2] „Hörend Großes, staunend über Wunderbares, also bin ich am Ohr und an dem Auge; aber woher das Große, woher das Wunderbare unter uns?
[1.106.3] Höre, Vater Kenan, was ist es denn, darum mir so wundersam zumute wird? Dieser einförmige, wenig betretene Waldweg ist es gewiss nicht! Wäre es noch eine Adamsgrotte oder der weiße, dampfende Berg im Morgen, oder die sieben Wasserspritzer von Mittag gen Abend, oder sonst etwas Naturaußerordentliches; allein, von allem dem ist hier keine Spur!
[1.106.4] Unsere verkehrte Ordnung ist es auch nicht; denn es ist doch einerlei, ob ich bei dir oder du bei mir gehst, ob der Henoch rückwärts oder vorne, ob mit Jared oder Adam, oder ob – nein, das scheint mir nicht alles eins zu sein! – ob Asmahael hinten oder vorne, und mit wem er geht!
[1.106.5] Denn hier scheint eine gewisse väterliche Rangordnung zugrunde zu liegen. Dass Adam und die Mutter Eva hinter uns allen einherwandeln, begreife ich wohl; aber was der Asmahael mit dem Abedam ganz rückwärts noch hinter dem Adam bedeutet, siehe, Vater Kenan, das bringe ich nicht so ganz recht heraus.
[1.106.6] Jared und Henoch vor uns haben Wunderbares über Asmahael miteinander gesprochen, soviel habe ich entnommen; was sie aber eigentlich miteinander geredet haben, habe ich fürs Erste nicht vernommen in klarer Deutlichkeit, und was ich noch vernommen habe, konnte ich nicht begreifen! Aber so viel ist gewiss, dass ich Großes vernommen und geschaut in mir selbst Wunderbares nach den sparsam vernommenen Worten aus dem Munde unserer behänden Vorschreiter!
[1.106.7] Ich bitte dich darum, mir, so es dir möglich ist, ein wenig aufzuhelfen in meiner Unkunde in dieser mir so ganz außerordentlich wunderbar scheinenden Sache; doch so du es gerne willst, lieber Vater Kenan. Amen.“
[1.106.8] Kenan aber erwiderte seinem Sohn Mahalaleel, sagend nämlich: „Höre, mein lieber Sohn, bei dem großartigen Beginn deiner Rede an mich habe ich geglaubt, weiß der Himmel, was da alles für lauter Unerhörtes herauskommen wird!
[1.106.9] Aber ich sehe, dass du immer noch der alte Mahalaleel bist, der da allzeit anfangs den Mund öffnet, als wollte er Sonnen gleich Erbsen ausspeien; allein am Ende kommen nicht einmal Erbsen zum Vorschein, sondern ein ganz gewöhnlicher Mundspeichel! Was soll’s da mit der verkehrten Ordnung, so sie dir eins ist? Warum darob Worte? Wenn Asmahael nun vorne wäre, was würde Er denn nachher sein? Nicht wahr, dann möchte es dir vielleicht großartig vorkommen, dieweil Er nicht rückwärts ist?!
[1.106.10] Nun begleitet Ihn Abedam; ist denn das mehr, denn dass du neben mir gehst?! Sagtest du doch selbst, dich hochschwingend, dass es dir einerlei ist, ob du neben mir oder ob ich neben dir einhergehe! Siehe, wie du etwas willst und weißt am Ende nicht, was es sei, das du willst!
[1.106.11] Was hat dir denn Adams Grotte getan und der weiße Berg und die sieben abendlichen Wasserspritzer, dass du dadurch nichtssagend deine Rede zieren mochtest?
[1.106.12] Du sagst, es komme dir so wunderbar vor, nachdem du die beiden Vorschreiter ungehört und somit auch unverstanden miteinander hast – sage – bloß nur reden sehen; was ist es denn, das dir so außerordentlich wundersam während der bloß nur angeschauten Rede der Vorschreiter vorkam?
[1.106.13] Siehe, mein lieber Sohn, wenn du etwas möchtest, so berate dich zuerst genau, was es sei, das du möchtest, und nach deinem klaren Bedürfnis erst frage dann danach, was du wissen möchtest!
[1.106.14] Wenn dir aber am Asmahael nun vielleicht etwas auffällt, so frage ich dich: Hast du denn zur Zeit Seiner Wunderreden aus Gott deine Ohren jemand anderem geliehen, dass du nun dem Anschein nach von der Hauptsache nichts zu wissen scheinst und mir nun dafür lauter Nichtssagendes von Ihm als Stoff deiner Hauptverwunderung anführst?
[1.106.15] O Sohn, du bist weit vom Ziel! Daher berate dich zuerst mit der Hauptsache, und werde mit dir eins, – dann komme und öffne vor mir dein Herz durch deinen Mund! Amen.“
[1.106.16] Mahalaleel aber merkte recht genau, dass der Rede Kenans der Kern mangelte, und dass diese gewisse Strafrede nichts als eine väterlich kluge Ausrede war, und sagte ganz ehrerbietig dawider zum Kenan:
[1.106.17] „Höre, lieber Vater! Mir scheint es, dass wir uns in unserer Rede aneinander um nichts überboten haben! Wer von uns beiden aber nun mehr ins Blaue gestochen hatte, ist eine bedeutungsvolle Frage!
[1.106.18] Siehe, ich habe kein Wort aus dem Munde Asmahaels verloren, mochte es dir aber darum nicht erwähnen, da ich es doch voraussetzte, dass solches eine unnütze Zeitzersplitterung wäre, und du solches bei mir doch auch, als dem Vater Jareds und Henochs sicher ungezweifelt voraussetzen wirst.
[1.106.19] Du sagtest nun, ich hätte meine Kinder bloß reden gesehen; siehe, da hast du vor mir nur etwas verbergen wollen, was du selbst so gut wie ich mit beiden unausgeliehenen Ohren Wort für Wort vernommen hast! Wie möchte ich dir sagen, solche Reden machten in mir Wunderbares erschauen, wenn es nicht also wäre, ansonst ich ja vor dir und Gott als ein schändlicher Lügner dastehen müsste?!
[1.106.20] Aber siehe, deine Rede sagte mir doch etwas, das du mir sicher nicht zu sagen gedachtest, und dieses ist, dass du vor mir eine gebundene Zunge hast und darfst mir nicht sagen vorderhand, was ich wissen möchte! Darum es auch unnötig war, dass du mir eine so lange Verneinung sagtest, die kernloser ist denn meine Frage; sondern hättest du mir kurz gezeigt das göttliche Band deiner Zunge, so hättest du dir ja bei weitem nicht so viele Mühe gemacht denn durch so viele vergebliche Worte. Siehe, ich war ja stets dir ein überaus gehorsamer Sohn; warum hast du mich denn jetzt verkannt?
[1.106.21] Lieber Vater, behalte es sorglos, was du behalten musst bis zur Zeit der Löse; aber nur halte mich für keinen Lügner und somit überblinden Forscher nach göttlichen Dingen! Denn nur meinen Leib hast du gezeugt; mein Geist aber ist dem deinen gleich aus Gott. Daher glaube ich, auch ein Vater soll sich an dem Göttlichen seiner Kinder nicht vergreifen. Denn es ist ja schon genug, dass der Geist ohnehin durch die Last des Leibes gezüchtigt ist und muss teilnehmen an dessen Gebrechen; so aber der Vater den Leib seiner Kinder züchtigt, so hat der Geist das Seine aus der Hand des Zeugers schon empfangen. Mehr bedarf es nicht. Wenn aber dann der göttliche Geist des Kindes sich da wendet an den göttlichen Geist des Zeugers, dann sollen sich die zwei göttlichen Brüder nicht mehr züchtigen, sondern sich nur in aller Liebe als Brüder in Gott wiedererkennen und einander, sich freundlichst unterstützend, Hand in Hand und Herz an Herz führen hin zur Pforte, durch welche das ewige Licht aller Gnade, Erbarmung und Liebe ewig unversiegbar strömt.
[1.106.22] O lieber Vater, glaube ja nicht, als habe ich dir jetzt dadurch eine dir noch unbekannte Lehre beibringen wollen! O nein, sondern ich musste mich nur insoweit rechtfertigen vor dir, auf dass wir nun wieder beide uns gegenüber und vor Gott [gerecht] fürder wandeln möchten; und also tat ich es mehr deinetwegen denn meinetwegen.
[1.106.23] Ich kenne dein Herz. Es ist rein wie die Sonne vor mir; aber deinen Mund und deine Zunge sah ich jetzt bestaubt und konnte unmöglich umhin, es zu unterlassen, als ein wahrer Sohn in aller Liebe dir einen Dienst zu erweisen und zu reinigen deinen Mund und deine Zunge von einem verderblichen Staub.
[1.106.24] Denn siehe, so dachte ich bei mir: ‚Vater, deine Zunge schmückt ein erhabenes Band aus der großen, ewigen Hand der Liebe Gottes! Was soll der Staub dabei? Weg damit, was des Todes ist!‘
[1.106.25] Nicht wahr, Vater, jetzt wirst du deinem Sohn nicht gram sein und seine Rede nicht ansehen, als wäre sie eine Halblüge, sondern du wirst erkennen, dass der Mahalaleel dir nicht törichterweise wird ein Band lösen wollen, höre, mit dem Gott deine Zunge geschmückt hat.
[1.106.26] Daher wirst du mir nicht zürnen, sondern mein lieber Vater sein in Gott fürder! Amen.“
[1.106.27] Kenan aber ward durch diese Rede zu Tränen gerührt und sagte endlich zum Sohn: „Mahalaleel, mein geliebter Sohn, ich habe dir unrecht getan, da ich dir deine erste Rede verstreute und äußerlich gar zunichte machen wollte, während ich innerlich nur zu sehr von ihrer wahren Tiefe überzeugt war.
[1.106.28] Du aber hast ein rechtes Licht, das größer ist denn das meinige. Was ich vor dir verbergen soll, wirst du noch eher finden, als ich es selbst ganz erfassen werde; daher sei mein lieber Sohn und mein geliebtester Bruder ewig, amen, höre als Bruder in Gott ewig! Amen.“
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