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95. Weitere Beispiele verkehrter Auffassung des zehnten Gebotes

(Am 26. Oktober 1843 von 3 3/4 – 5 3/4 Uhr abends.)

[2.95.1] Wie das Gesetz lautet, wissen wir; es untersagt ein Verlangen oder ein Begehren. Nun aber fragt es sich: Irgendein Mann ist verarmt, während sein Nachbar ein reicher Mann ist. Das Weib des Nachbarn als des Nächsten an unserem armen Menschen, hat ein ihm bekanntes mitleidiges und mildtätiges Herz. Unser Armer bekommt nun offenbar ein Verlangen nach dem mildtätigen Weib seines Nachbarn und begehrt sie, dass sie ihm möchte den Hunger stillen. – Frage, hat dieser gesündigt oder nicht? Er hat offenbar ein Verlangen und Begehren nach dem Weib seines Nachbarn gestellt. Nachdem es aber heißt: Du sollst kein Verlangen nach dem Weib deines Nächsten haben – wer kann hier begründetermaßen dieses billige Verlangen des Armen als unsündhaft erklären? Denn unter „kein Verlangen, kein Begehren haben“ muss doch sicher jedes Verlangen und jedes Begehren untersagt sein, da in dem Wort „kein“ durchaus keine Exemtion erweislich ist. So muss denn auch dadurch ein wie immer geartetes Verlangen untersagt sein.

[2.95.2] Leuchtet aus dieser Erklärung nicht augenscheinlich hervor, dass der Herr dadurch das weibliche Geschlecht offenbar habe von der Liebtätigkeit abwendig machen wollen, wonach dann sicher eine jede Wohltat, die irgendeine Hausfrau einem armen Menschen erteilt, als vollkommene, dem göttlichen Gebot zuwiderlaufende Sünde anzusehen ist?

[2.95.3] Lässt sich aber so ein unsinniges Gebot von Seiten der allerhöchsten Liebe des Herrn wohl denken? Man wird hier freilich sagen: Das Gebot beschränkt sich nur auf das fleischliche wollüstige Verlangen. – Ich aber sage: Es ist gut, lassen wir es also bei dem bewendet sein, nur muss man mir dabei erlauben, einige Bemerkungen zu machen. Stoßen diese Bemerkungen dieses Bewendet-sein-lassen um, dann muss sich’s ein jeder Einwender gefallen lassen, bei der Bestimmung dieses Gebotes einen anderen Weg zu ergreifen. Und so vernehme man die Bemerkungen.

[2.95.4] Das Gebot soll also lediglich ein sinnlich fleischliches Verlangen untersagen. Gut, sage ich, frage aber dabei: Ist im Gebot ein Weib bestimmt angegeben oder sind im Gebot alle Weiber darunter verstanden oder finden gewisse natürliche Exzeptionen statt?

[2.95.5] Nehmen wir an, mehrere sich gegenüberstehende Nachbarn haben alte, durchaus nicht mehr reizende Weiber. Da können wir auch versichert sein, dass diese Nachbarn hinsichtlich ihrer gegenseitigen Weiber durchaus kein fleischliches Verlangen mehr haben werden. Also müssten darunter nur die jungen Weiber verstanden sein und die jungen nur dann, wenn sie schön und reizend sind. Also werden auch alte und abgelebte Männer sicher nicht mehr viel von fleischlich sinnlichen Begierden gequält sein gegenüber was immer für Weibern ihrer Nachbarn.

[2.95.6] Dadurch sehen wir aber, dass dieses Gesetz nur unter großen Bedingungen geltend ist. Also hat das Gesetz Lücken und hat somit keine allgemeine Geltung. Denn wo schon die Natur Ausnahmen macht und ein Gesetz nicht einmal die volle naturmäßige Geltung hat, wie soll es sich da ins Geistige erstrecken? Wer solches nicht begreifen kann, der breche nur einen Baum ab und sehe, ob er dann noch wachsen wird und Früchte tragen.

[2.95.7] Ein göttliches Gesetz aber muss doch sicher so gestellt sein, dass dessen beseligende Geltung für alle Ewigkeiten gesetzt ist. Wenn es demnach aber schon im Verlaufe des kurzen irdischen Daseins unter gewissen Umständen natürlicherweise über die geltenden Schranken hinausgedrängt wird, also schon im Naturzustand des Menschen als wirkend zu sein aufhört, was soll es dann für die Ewigkeit sein? Ist nicht jedes Gesetz Gottes in Seiner unendlichen Liebe gegründet? Was ist es denn aber hernach, wenn ein solches Gesetz außer Geltung tritt? Ist das etwas anderes, als so man behaupten möchte, die göttliche Liebe tritt ebenfalls unter gewissen Umständen außer Geltung für den Menschen?

[2.95.8] Darauf aber beruht auch der traurige Glaube eurer heidnisch-christlichen Seite, demzufolge die Liebe Gottes nur so lange dauert, solange der Mensch auf dieser Welt lebt. Ist er einmal gestorben dem Leibe nach und steht lediglich seelisch und geistig da, so fängt sogleich die unwandelbare allerschrecklichst gestrenge, strafende Zorngerechtigkeit Gottes an, bei der von einer Liebe und Erbarmung ewig keine Rede mehr ist.

[2.95.9] Hat der Mensch durch seine Lebensweise den Himmel verdient, so kommt er nicht etwa zufolge der göttlichen Liebe, sondern nur zufolge der göttlichen Gerechtigkeit in den Himmel, und das natürlich durch das eigene, Gott dienliche und wohlgefällige Verdienst. Hat aber der Mensch nicht also gelebt, so ist die augenblickliche ewige Verdammnis vorhanden, aus der nimmer eine Erlösung zu erwarten ist – was mit anderen Worten nichts anderes sagen will, als so es irgendeinen törichten Vater gäbe, der da ein solches Gesetz in seinem Haushalt aufstellte, und das gegen seine Kinder, welches also lauten möchte:

[2.95.10] Ich gebe allen meinen Kindern von der Geburt an bis in ihr siebtes Jahr vollkommen Freiheit. In dieser Zeit sollen sie alle meine Liebe ohne Unterschied genießen. Nach Verlauf des siebten Jahres aber ziehe ich bei allen Kindern meine Liebe zurück und will sie von da an entweder richten oder beseligen. Die als unmündige Kinder meine schweren Gesetze gehalten haben, die sollen nach dem siebten Jahr sich fortan meines höchsten Wohlgefallens zu erfreuen haben. Welche sich aber im Verlaufe des siebten Jahres nicht völlig bis auf ein Atom nach meinem schweren Gesetz gebessert haben, diese sollen fortan für alle Zeiten aus meinem väterlichen Haus verflucht und verworfen werden. – Sagt, was würdet ihr zu einem so grausamen Esel von einem Vater sagen? Wäre das nicht ungeheuer mehr als die allerschändlichste Tyrannei aller Tyranneien?

[2.95.11] Wenn ihr aber solches doch sicher schon bei einem Menschen für unberechenbar töricht, arg und böse finden würdet, wie entsetzlich unsinnig müssen da wohl die Menschen sein, wenn sie noch viel Ärgeres Gott, der die allerhöchste Liebe und Weisheit Selbst ist, solche kaum aussprechliche Schändlichkeiten ansinnen und zuschreiben können!

[2.95.12] Was tat der Herr am Kreuz als die alleinige göttliche Weisheit, da Sie gewisserart dem außen nach wie geschieden war von der ewigen Liebe? Er, als die Weisheit, und als solche der Grund aller Gerechtigkeit, wandte Sich Selbst an den Vater oder an die ewige Liebe, forderte diese nicht gewisserart gerechtermaßen um die Rache auf, sondern Er bat die Liebe, dass Sie allen diesen Missetätern, also auch allen den Hohenpriestern und Pharisäern all ihre Tat vergeben möchte, indem sie nicht wissen, was sie tun!

[2.95.13] Solches tut also hier schon die göttliche Gerechtigkeit für Sich. Soll dann die unendliche göttliche Liebe da zu verdammen anfangen, wo die göttliche Gerechtigkeit die noch endlos barmherzigere Liebe um Erbarmung anfleht?

[2.95.14] Oder wenn man das nicht gelten lässt, dass es dem Herrn wirklich Ernst war mit Seiner Bitte, und sagt, solches habe Er nur beispielsweise getan, macht man da den Herrn nicht zu einem Heuchler, indem man Ihn nur scheinhalber am Kreuz um Vergebung bitten lässt? Heimlich aber lässt man in Ihm doch die unvertilgbare Rache übrig, derzufolge Er in Sich dennoch alle diese Übeltäter schon lange in das allerschärfste höllische Feuer verdammt hatte!

[2.95.15] O Welt! O Menschen! O allerschrecklichster Unsinn, der je irgend in der ganzen Unendlichkeit und Ewigkeit erdacht werden könnte! Kann man sich wohl etwas Schändlicheres denken, als so man zur allerfalschesten, freilich wohl zeitlichen Autoritätsbegründung der Hölle den Herrn am Kreuz zu einem Lügner, Scheinprediger, Verräter und somit zum allgemeinen Weltenbetrüger macht? Aus wessen anderem Munde als nur allein aus dem Munde des Erzsatans kann solche Lehre und können solche Worte kommen?

[2.95.16] Ich meine, es genügt auch hier wieder, um euch zu der Einsicht zu bringen, welche Gräuel aus einer höchst verkehrten Deutung und Auslegung eines göttlichen Gesetzes hervorgehen können. Dass es so ist bei euch auf der Welt, das könnt ihr bereits wohl schon selbst mit den Händen greifen. Aber warum es so ist, aus was für einem Grunde, das wusstet ihr nicht und konntet es auch nicht wissen; denn zu mächtig verwirrt ward der Gesetzesknoten, und nimmer hätte jemand diesem Knoten die volle Lösung geben können.

[2.95.17] Daher hat Sich der Herr eurer erbarmt und lässt euch in der Sonne, da es doch sicher licht genug ist, die wahre Lösung dieses Knotens verkünden, auf dass ihr den allgemeinen Grund aller Bosheit und Finsternis erschauen möchtet.

[2.95.18] Man wird freilich sagen: Ja, wie kann denn doch so viel Übel von dem Missverstand der zehn Gebote Moses abhängen?

[2.95.19] Da meine ich: Weil diese zehn Gebote von Gott gegeben sind und tragen in sich die ganze unendliche Ordnung Gottes selbst.

[2.95.20] Wer sonach in einem oder dem anderen Punkt auf was immer für eine Art aus der göttlichen Ordnung tritt, der bleibt in gar keinem Punkt mehr in der göttlichen Ordnung, indem diese gleich ist einem geraden Weg. So jemand wo immer von diesem Weg abweicht, kann er da sagen: Ich bin nur ein Viertel, Fünftel, Siebtel oder Zehntel des Weges abgewichen? Sicher nicht. Denn wie er nur im Geringsten den Weg verlässt, so ist er schon vom ganzen Weg hinweg, und will er nicht auf den Weg zurückkehren, da wird man doch sicher und gewiss behaupten können, dass derjenige einzelne Punkt am Weg, da der Wanderer von selbem abgewichen ist, den Wanderer sicher vom ganzen Weg entfernt hatte.

[2.95.21] Und ebenso verhält es sich auch mit jedem einzelnen Punkt des göttlichen Gesetzes. Es kann nicht leichtlich jemanden geben, der sich am ganzen Gesetz gewaltigst versündigt hätte, indem solches auch nahe unmöglich wäre. Aber es ist genug, wenn sich jemand in einem Punkt versündigt und beharrt dann dabei; so kommt er auf diese Weise doch vom ganzen Gesetz hinweg, und wenn er es nicht will und der Herr ihm nicht behilflich sein möchte, so käme er nimmer auf den Weg des Gesetzes oder der göttlichen Ordnung zurück. Und so könnt ihr auch versichert sein, dass die meisten Übel der Welt vom freilich wohl leider anfänglich eigen- und böswilligen Unverstand oder vielmehr von der böswilligen Verdrehung des Sinnes dieser beiden letzten göttlichen Gebote herrühren.

[2.95.22] Wir haben nun aber auch der Lächerlichkeiten und falschen Auslegungen dieses Gebotes zur Genüge kundgegeben; daher wollen wir denn auch zur rechten Bedeutung dieses Gesetzes schreiten, in deren Licht ihr alle die Albernheiten noch ums Unvergleichliche heller erleuchtet erschauen werdet.

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