(Am 23. Oktober 1843 von 5 – 6 1/4 Uhr abends.)
[2.93.1] Wir sind darinnen und erblicken auf der Tafel mit deutlicher Schrift geschrieben: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!“
[2.93.2] Dass dieses Gebot hier im reinen Reich des Geistes und ganz besonders im Reich der Kinder sicher einem jeden Denker etwas sonderbar klingt, braucht kaum erwähnt zu werden. Denn fürs Erste wissen diese Kinder noch nicht im Geringsten, was da etwa ist ein ehelich Weib, und fürs Zweite ist hier auch das Verehelichen etwa beider Geschlechter untereinander durchaus nicht gang und gäbe, besonders im Reich der Kinder. Also im Geisterreich findet dieses Gebot, dieser Betrachtung zufolge, offenbar keine Anwendung.
[2.93.3] Man wird aber sagen: Warum sollte denn der Herr unter zehn Geboten nicht eines gegeben haben, welches allein den irdischen Verhältnissen entsprechen muss? Denn auf der Erde ist die Verbindung zwischen Mann und Weib gang und gäbe und ist daher ein altbegründetes, auf der göttlichen Ordnung beruhendes Verhältnis, welches aber ohne ein Gebot nicht in der göttlichen Ordnung verbleiben kann. Also kann man hier ja annehmen, dass der Herr unter den zehn Geboten eines bloß für die Aufrechthaltung der Ordnung eines äußeren, irdischen Verhältnisses wegen gegeben hat, damit durch die Aufrechthaltung dieser Ordnung eine geistige, innere, höher stehende nicht gestört wird.
[2.93.4] Gut, sage ich; wenn dem aber so ist, da sage ich: Dieses Gebot ist dann von diesem Standpunkt aus betrachtet nichts anderes als ein höchst überflüssiger Pleonasmus des ohnehin ganz dasselbe gebietenden sechsten Gebotes. Denn auch in diesem wird in seinem völligen Verlaufe alles als verboten dargestellt, was immer nur auf die Unzucht, Hurerei und den Ehebruch irgendeine Beziehung hat, sowohl in leiblicher, wie ganz besonders in geistiger Hinsicht.
[2.93.5] Wenn wir nun dieses ein wenig gegeneinander abwägen, so ergibt sich fürs Erste daraus, dass dieses Gebot für den Himmel gar nicht taugt, und dass es fürs Zweite neben dem sechsten Gebot rein überflüssig ist.
[2.93.6] Ich sehe aber jemanden, der da kommt und spricht: He, lieber Freund, du irrst dich. Dieses Gebot, wenn schon an und für sich nahe dasselbe verbietend, was da verbietet das sechste Gebot, ist dennoch für sich ganz eigen und höher stehend und tiefer greifend, als da ist das sechste Gebot. Denn beim sechsten Gebot wird offenbar nur die effektive grobe Handlung, in diesem zehnten aber das Verlangen und die Begierde als die allzeitigen Grundursachen zur Tat verboten. Denn man sieht es ja gar leicht ein, dass hier und da besonders junge Ehemänner auch gewöhnlich junge schöne Weiber haben. Wie leicht ist es einem anderen Mann, dass er seines vielleicht nicht schönen Weibes vergisst, sich in das schöne Weib seines Nächsten vergafft, in sich dann einen stets größeren Trieb und ein stets größeres Verlangen erweckt, seines Nächsten Weib zu begehren und mit ihr seine geile Sache zu pflegen.
[2.93.7] Gut, sage ich, wenn man dieses Gebot von diesem Standpunkt primo loco [an erster Stelle] betrachtet, so ergeben sich daraus nicht mehr als eine halbe Legion Lächerlichkeiten und Narrheiten über Hals und Kopf, durch welche das Göttliche eines solchen erhabenen Gebotes in den schmutzigsten Staub und in die stinkendste Kloake des weltlichen Witzes und Verstandes der Menschen herabgezogen werden muss. Wir wollen beispiels- und erläuterungshalber geflissentlich einige Lächerlichkeiten anführen, damit dadurch jedermann klar werde, wie entsetzlich seicht und auswendig dieses Gebot über acht Jahrhunderte hindurch aufgefasst, erklärt und zu beobachten befohlen ward.
[2.93.8] Ein Mann soll alsdann kein Verlangen nach dem Weib seines Nächsten haben. Hier lässt sich fragen: Was für ein Verlangen oder Begehren? Denn es gibt ja eine Menge redlicher und wohlerlaubter Verlangen und Begehrungen, die ein Nachbar an das Weib seines Nächsten richten kann. Aber im Gebot heißt es unbedingt, „kein Verlangen haben“. Dadurch dürfen nur die beiden Nachbarn miteinander in der Konversation stehen, die Weiber aber müssen sie gegenseitig stets mit Verachtung ansehen. Und das ist nichts mehr und nichts weniger als gerade [die] türkische Auffassung dieses mosaischen Gebotes.
[2.93.9] Ferner, wenn man die Sache buchstäblich und materiell betrachtet, so muss man doch hoffentlich alles buchstäblich nehmen und nicht ein paar Worte buchstäblich und ein paar Worte geistig daneben; was sich geradeso ausnimmt, als so jemand an einem Fuß ein schwarzes und an dem anderen ein ganz subtil durchsichtiges weißes Beinkleid trüge. Oder als wollte jemand behaupten, ein Baum müsse so wachsen, dass sein halber Stamm mit Rinde und der andere halbe Stamm ohne Rinde sonach zum Vorschein käme. Dieser Betrachtung zufolge verbietet das zehnte Gebot nur das Verlangen nach dem Weib des Nächsten. Wer kann das im buchstäblichen Sinne sein? Niemand anderer als entweder die nächsten Nachbarn oder auch nahe Blutsverwandte. Buchstäblich dürfte man also nur nach den Weibern dieser beiderlei Nächsten kein Verlangen haben, die Weiber entfernter Bewohner eines Bezirks, besonders aber die Weiber der Ausländer, die sicher keine Nächsten sind, können daher ohne weiteres verlangt werden. Denn solches wird doch ein jeder ohne Mathematik und Geometrie begreifen, dass man im Vergleich zum nächsten Nachbarn einen anderen, einige Stunden entfernten oder gar einen Ausländer für einen Nächsten oder Nächstseienden nicht anerkennen kann. Seht, auch das ist türkisch, denn diese halten dieses Gebot nur als Türken gegeneinander; gegen fremde Nationen haben sie da gar kein Gesetz. Gehen wir aber weiter.
[2.93.10] Ich frage: Ist das Weib meines Nächsten denn von der Haltung des göttlichen Gesetzes ausgenommen? Denn im Gesetz steht nur, dass ein Mann nach dem Weib seines Nächsten kein Verlangen haben soll. Aber von dem, dass etwa ein geiles Weib nach ihrem nächsten Nachbarn kein Verlangen haben soll, davon steht im Gebot keine Silbe. Man gibt auf diese Weise den Weibern offenbar notwendig ein Privilegium, die ihnen zu Gesicht stehenden Männer ohne alles Bedenken zu verführen. Und wer wird es ihnen verbieten, solches zu tun, da für diesen Fall vom Herrn aus kein Gebot vorhanden ist? Auch das ist aus der türkischen Philosophie; denn die Türken wissen aus dem Buchstabensinn, dass die Weiber von solchem Gesetz frei sind. Daher sperren sie dieselben ein, damit sie ja nicht irgend ins Freie kommen und andere Männer nach ihnen lüstern machen möchten. Und gestattet schon ein Türke irgendeinem seiner Weiber einen Ausgang, so muss sie sich aber so unvorteilhaft für ihre inwendigen Reize vermummen, dass sie sicher sogar einem ihr begegnenden Bären einen sehr bedenklichen Respekt einflößen würde, und darf ihre Reize nur allein vor ihrem Mann entfalten. Wer kann da auftreten und dagegen behaupten, als wäre solches nicht aus dem Buchstabensinn des Gebotes zu erkennen? Offenbar hat diese Lächerlichkeit seinen unleugbaren Grund eben im Gebot selbst. Gehen wir aber weiter.
[2.93.11] Können nicht die nächsten Nachbarn etwa schon erwachsene Töchter haben oder andere recht saubere Dienstmädchen? Ist es nach dem zehnten Gebot erlaubt oder nicht, nach den Töchtern oder anderen Mädchen des Nächsten ein Verlangen zu haben, selbst als Ehemann? Offenbar ist solches gestattet, denn im sechsten Gebot ist vom Verlangen keine Rede, sondern nur von der Tat. Das zehnte Gebot verbietet aber nur das Verlangen nach dem Weib, also ist das Verlangen nach den Töchtern und allfälligen anderen hübschen Mädchen des Nächsten ohne Widerrede erlaubt. Seht, da haben wir wieder eine türkische Auslegung des Gesetzes mehr. Um die Sache aber recht sonnenklar anschaulich zu machen, wollen wir noch einige solcher Lächerlichkeiten anführen.
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