Hier ist Dein Kapitel

91. Wer sich gegen das neunte Gebot versündigt

(Am 20. Oktober 1843 von 4 1/2 – 5 3/4 Uhr abends.)

[2.91.1] Fürs Zweite drückt das Gebot selbst die weise Beschränkung des Sammel- und Verfertigungsrechtes offenkundig und handgreiflich aus. Wenn wir das im ersten Punkt bezeichnete verhältnismäßige Urgrundeigentümliche daneben zur Beschauung aufstellen, so deutet das Gebot ja genau darauf hin, indem es doch ausdrücklich untersagt, ein Verlangen nach dem zu haben, was des anderen ist.

[2.91.2] Was ist also des anderen? Des anderen ist auf dem vom Herrn zum allgemeinen Unterhalt der Menschen geschaffenen Erdboden gerade so viel, was ihm sein naturrechtliches, von seinem Bedürfnis abgeleitetes Ausmaß gibt. Wer demnach über dieses Ausmaß sammelt und verfertigt, der versündigt sich schon im ersten Grad tatsächlich wider dieses Gebot, indem in diesem Gebot sogar die verlangende Begierde schon als sträflich dargestellt ist.

[2.91.3] Im zweiten Grad versündigt sich der Träge gegen dieses Gebot, der zu faul ist, sein ursprünglich gerechtes Sammelrecht auszuüben, dafür nur stets mit der Begierde schwanger herumgeht, sich dessen zu bemächtigen, was ein anderer urnaturrechtlich gesammelt und verfertigt hat.

[2.91.4] Wir sehen daraus, dass man sich sonach gegen dieses Gebot auf eine zweifache Weise verfänglich machen kann, d. i. erstens durch eine übertriebene Sammel- und Verfertigungsgier, und zweitens durch gänzliche Unterlassung derselben. Für beide Fälle aber steht das Gebot gleichlautend mit der weisen Beschränkung da. Im ersten Falle beschränkt es die übertriebene Sammel- und Verfertigungsgier, im zweiten Falle die Faulheit und beabsichtigt dadurch die gerechte Mitte; denn es drückt nichts anderes aus als die Achtung mit Liebe vereint für das naturgerechte Bedürfnis des Nebenmenschen.

[2.91.5] Man wird aber hier entgegentreten und sagen: Es gibt in der gegenwärtigen Zeit überaus reiche und wohlhabende Menschen, welche bei all ihrem Reichtum und ihrer Wohlhabenheit nicht eine Quadratspanne Grundeigentum besitzen. Sie haben sich durch glückliche Handelsspekulationen oder Erbschaft in einen großen Geldreichtum versetzt und leben nun von ihren rechtlichen Zinsen. Was soll es mit diesen? Ist ihr Vermögen nach dem göttlichen Urrecht naturgesetzrechtlich oder nicht? Denn sie beschränken durch ihren Geldbesitz keines Menschen Grundbesitztum, indem sie sich nirgends etwas ankaufen wollen, sondern sie leihen ihr Geld auf gute Posten zu den gesetzlichen Zinsen aus; oder sie machen anderweitige erlaubte Wechselgeschäfte und vermehren dadurch ihr Stammkapital jährlich um viele tausend Gulden, wo sie nach dem Recht des Naturbedürfnisses nicht den hundertsten Teil ihres jährlichen Einkommens zu ihrer guten Verpflegung bedürfen. Sie sind aber dabei nicht selten im Übrigen sehr rechtliche, mitunter auch wohltätige Menschen. Verfehlen sich auch diese gegen unser neuntes Gebot?

[2.91.6] Ich sage hier: Es ist das einerlei, ob jemand auf was immer für eine Art über sein Bedürfnis hinaus zu viel Geldschätze oder zu viel Grund besitzt. Das alles ist äquivalent. Denn wenn ich so viel Geld habe, dass ich mir damit mehrere Quadratmeilen Grund und Boden als staatsgesetzlich eigentümlich ankaufen kann, so ist das ebenso viel, als wenn ich mir für dieses Geld schon wirklich so viel Grund und Boden zu eigen gemacht hätte. Im Gegenteil ist es sogar schlechter und der göttlichen Ordnung viel mehr zuwiderlaufend. Denn wer da so viel Grundeigentum besäße, der müsste dabei doch notwendigerweise einige tausend Menschen einen Lebensunterhalt sich mit verschaffen lassen, indem er für sich einpersönlich doch unmöglich einen so großen Grundbesitz zu bearbeiten imstande wäre.

[2.91.7] Betrachten wir aber dagegen einen Menschen, der zwar keinen Grundbesitz hat, aber so viel Geld, dass er sich mit demselben nahe ein Königreich ankaufen könnte; so kann er dieses Geld im strengsten Falle allein nutzbringend verwalten, oder er braucht dazu höchstens einige wenige Berechnungsgehilfen, die allein von ihm einen im Verhältnis zu seinem Einkommen sehr gemäßigten Gehalt haben, welcher auch oft kaum hinreicht, ihre Bedürfnisse, besonders wenn sie Familie haben, zu befriedigen.

[2.91.8] Kein solcher Geldbesitzer aber kann sich mit der Art und Weise, wie er zu dem Geld gekommen ist, entschuldigen, ob durch Spekulation, ob durch eine gewonnene Lotterie oder ob durch eine Erbschaft. Denn in jedem Fall steht er vor Gott geradeso da wie ein Hehler neben dem Dieb. Wieso denn, dürfte jemand fragen?

[2.91.9] Was heißt reich werden durch glückliche Spekulation? Das ist und heißt nichts anderes als einen rechtmäßigen Verdienst vieler wucherisch an sich reißen, dadurch vielen den rechtmäßigen Verdienst entziehen und ihn sich allein zueignen. In diesem Fall ist ein durch glückliche Spekulation reich gewordener Mensch ein barster Dieb selbst. Bei einem Lotteriegewinn ist er es auf gleiche Weise, weil ihm der Einsatz von vielen allein zugutekommt. Bei einer Erbschaft aber ist er ein Hehler, der das widerrechtliche Gut seiner Vorfahren [in Besitz nimmt], die nur auf die zwei vorerwähnten Arten es sich haben eigen machen können.

TAGS

Kein Kommentar bisher

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Letzte Kommentare