(Am 12. Oktober 1843 von 4 1/2 – 5 3/4 Uhr abends.)
[2.86.1] Damit wir aber diesen gordischen Knoten auch so gewisserart mit einem Hieb entwirren mögen, so wollen wir uns gleich über die Erörterung des Hauptbegriffes in diesem achten Gebot machen.
[2.86.2] Wir wissen, dass vom Herrn aus einem jeden Geist ein freier Wille und also auch ein freier Gedanke zur Beleuchtung des freien Willens gegeben ward. Und dieser Gedanke im Geist ist eigentlich die Sehe und das Licht des Geistes, durch welches er die Dinge in ihrer naturmäßigen Sphäre erschauen kann.
[2.86.3] Neben diesem Licht, das jeder Geist eigentümlich von Gott wesenhaft erhalten hat, hat er aber auch noch eine zweite Fähigkeit, ein innerstes, allerheiligstes Licht von Gott aufzunehmen; aber nicht durch sein Auge, sondern durch das Ohr, welches eigentlich auch ein Auge ist. Aber nicht ein Auge zur Aufnahme äußerer Erscheinlichkeiten, welche hervorgebracht werden durch den allmächtigen Willen des Herrn, sondern es ist ein Auge zur Aufnahme des reingeistigen Lichtes aus Gott, nämlich des Wortes Gottes.
[2.86.4] Solches mögt ihr schon aus eurer noch naturmäßigen Beschaffenheit abnehmen, wenn ihr nur einigermaßen darauf achtet, wie sehr das unterschieden ist, was ihr durch eure Augen erschaut und daneben durch eure Ohren erhorcht. Durch eure Augen könnt ihr nur naturmäßige Bilder erschauen, mit euren Ohren aber könnt ihr Strahlen aus der innersten göttlichen Tiefe aufnehmen.
[2.86.5] Ihr könnt die Sprache der Geister in der Harmonie der Töne vernehmen oder besser gesagt: ihr könnt die geheimen Formen der innersten geistigen Schöpfung schon äußerlich materiell durch eure fleischlichen Ohren vernehmen. Wie tief zurück steht da das Auge vor dem Ohr?!
[2.86.6] Seht, so ist es auch bei dem Geist. Er ist vermöge solcher Einrichtung befähigt, Zweifaches aufzunehmen, nämlich das äußere Bildliche und das innere wesenhaft Wahre.
[2.86.7] In diesem Doppelschauen liegt das Geheimnis des freien Willens zugrunde.
[2.86.8] Ein jeder Mensch, sei er jetzt rein geistig oder noch mit der Materie umhüllt, hängt durch diese Fähigkeit ganz natürlichermaßen zwischen einem Inneren und Außen. Er kann sonach allzeit eine zahllose Menge von Außenformen erschauen, kann aber auch zu gleicher Zeit ebenso viel der inneren, rein göttlichen Wahrheit in sich aufnehmen.
[2.86.9] Mit dem Licht von außen fasst er nichts von all dem Geschauten als bloß nur die äußere Form und kann dadurch in sich selbst eben durch die Aufnahme dieser Formen der Schöpfer seiner Gedanken sein.
[2.86.10] Mit diesen Gedanken kann er auch seinen frei disponiblen Willen in Bewegung setzen, wie und wann er will.
[2.86.11] Gebraucht er das andere Auge des inneren göttlichen Lichtes nicht, sondern begnügt und beschäftigt er sich bloß mit den Formen, so ist er ein Mensch, der sich offenbar selbst betrügt; denn die Formen sind für ihn so lange leere Erscheinungen, als bis er sie nicht in ihrer Tiefe erfassen kann.
[2.86.12] Wenn aber ein Mensch auch zugleich vom Herrn aus das innere Licht hat und erschaut, so er nur will, das Innere der Formen, verstellt sich aber selbst dabei und zeugt von den Außenformen anders, als er ihre hohe Bedeutung mit dem inneren geistigen Auge, welches das Ohr ist, erschaut, so gibt er den äußerlich erschauten Formen doch offenbar ein falsches Zeugnis.
[2.86.13] Hier haben wir nun schon aus der Wurzel erörtert, was im Grunde des Grundes „ein falsches Zeugnis geben“ heißt. In der Hauptsache aber kommt es wieder darauf an, dass der Mensch von der göttlichen Wahrheit in sich nicht anders reden soll, als er sie in sich gewahrt.
[2.86.14] Im Allerinwendigen aber verhält sich die Sache so: Die Liebe ist gleich dem inwendigst erschauten Wahrheitslicht unmittelbar aus Gott, und die Weisheit ist gleich dem ausstrahlenden Licht aus Gott durch alle unendlichen ewigen Räume.
[2.86.15] So aber jemand die Liebe hat, wendet sie aber nicht an, sondern ergreift bloß nur mit seinem äußeren Licht und seinem von diesem Licht geleiteten Willen die nach außen gehenden Strahlen fortwährend mehr und mehr ins Unendliche, wird daher immer schwächer, aber zufolge seines Ausfluges nach allen Seiten geistig genommen stets aufgeblähter und auch stets weniger empfänglich für das inwendige Liebewahrheitslicht aus Gott –
[2.86.16] wenn also das der Fall ist, so wird ein solcher Mensch Gott stets unähnlicher und gibt dadurch mit jedem Atom seines Seins der göttlichen Wesenheit, deren vollkommenes Ebenmaß er sein sollte, ein vom Grunde aus falsches Zeugnis.
[2.86.17] Wer demnach das göttliche Wort vernimmt, folgt aber demselben nicht, sondern folgt bloß nur dem, was da seine äußeren Augen besticht und dadurch seinen sinnlichen Willen reizt, der gibt mit einem jeden Tritt, den er macht, mit einem jeden Wort, das er spricht, mit einer jeden Bewegung der Hand, die er macht, ein falsches Zeugnis. Wer da auch reden möchte die reinste göttliche Wahrheit, das reine Wort des Evangeliums, so lügt er aber doch und gibt dem Herrn ein falsches Zeugnis, weil er nicht nach dem Wort und nach der Wahrheit handelt.
[2.86.18] So da jemand betet und versichert seine Andacht zu Gott, lebt aber nicht nach dem Wort des Herrn, der ist ein Lügner, soweit er warm und lebendig ist; denn sein Gebet ist da bloß nur eine äußere Formel, deren innerer Wert gänzlich verlorengeht, weil das innere göttliche Licht nicht dazu verwendet wird, um das Inwendige dieser äußeren Form zu beleuchten und zu beleben.
[2.86.19] Es ist gerade so viel, als wenn jemand auch mit der größten Entzückung einen Stern betrachtet. Was nützt ihm aber all diese Entzückung und Betrachtung, wenn er den Stern nicht in seiner völligen Nähe als eine wundervolle Welt betrachten kann? Er gleicht da einem Hungernden vor einem versperrten Brotschrank. Er mag diesen Brotschrank noch so sehnsüchtig und noch so verehrend betrachten, wird er aber davon gesättigt? Sicher nicht. Denn solange er nicht in das Innere des Brotes beißen und dasselbe nicht aufnehmen kann in seinen Magen, wird ihm alle Betrachtung, Verehrung und Entzückung vor dem Brotschrank nichts nützen.
[2.86.20] Wie aber kann man den Brotschrank der wahren Gottähnlichkeit in sich eröffnen und sich daran sättigen? Sicher nicht anders, als wenn man dasjenige inwendigste Mittel in sich gebraucht und sich sogestalt nach der von Gott vernommenen Wahrheit richtet. Dass man von den nach außen hin geschauten Formen nur das zum tätigen Gebrauch aufnimmt, was und inwieweit man dasselbe mit dem innersten Licht als völlig in der Entsprechung übereinstimmend und sonach göttlich wahr gefunden hat. Sobald das nicht der Fall ist, so ist alles, was der Mensch tut und unternimmt, ein falsches Zeugnis über die innere göttliche Wahrheit und somit eine barste Lüge gegenüber einem jeden Nebenmenschen.
[2.86.21] Darum spricht der Herr: „Wer da betet, der bete im Geist und in der Wahrheit“, und: „So ihr betet, da geht in euer Kämmerlein“, und weiter: „Denkt nicht, was ihr reden werdet, sondern zur Stunde wird es euch in den Mund gelegt werden.“
[2.86.22] Hier sind offenbar die äußeren Gedanken angezeigt, welche schon darum an und für sich keine Wahrheit sind, weil sie Gedanken sind; denn die Wahrheit ist inwendigst, ist das Motiv zur Handlung nach dem Wort Gottes und gibt sich allzeit eher kund als eine darauffolgende leere Gedankenflut.
[2.86.23] Demnach soll sich auch ein jeder nach dieser inneren Wahrheit richten und danach tätig sein. So wird er stets mehr und mehr seine Gedanken mit diesem inneren Licht werktätig verbinden und dadurch in sich zur Einheit und somit zur göttlichen Ähnlichkeit gelangen, in welcher es ihm dann für ewig unmöglich wird, einen Lügner zu machen.
[2.86.24] Dass aber dann auch ein jeder, der anders spricht, als er denkt, und anders handelt, als er spricht und denkt, ein Lügner ist, versteht sich von selbst; denn ein solcher ist schon ganz in der alleräußersten, gröbsten Materie begraben und hat seinem Geist die ganze göttliche Form benommen. Also wird auch diesen Schülern hier dieses Gebot seinem inwendigsten Gehalt nach erläutert. Und da wir solches wissen, so können wir uns sogleich weiter in den neunten Saal begeben.
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