(Am 5. Oktober 1843 von 4 3/4 – 6 Uhr abends.)
[2.83.1] Dass vorderhand unter dem Begriff „Stehlen“ unmöglich die eigenmächtige Wegnahme der materiellen Güter eines anderen verstanden werden konnte, erhellt klar daraus, weil besonders zur Zeit der Gesetzgebung niemand aus dem israelitischen Volk ein Eigentum besaß. Und selbst als das Volk ins Gelobte Land eingezogen ist, die staatliche Verfassung desselben also bestellt war, der zufolge niemand in diesem Land ein ganz vollrechtiges Eigentum besitzen konnte, sondern es war dabei so viel als möglich auf eine Gütergemeinschaft abgesehen, und ein jeder dürftige Israelit, wenn er übrigens in der göttlichen Ordnung lebte, musste überall die gastfreundlichste Aufnahme und Unterkunft finden.
[2.83.2] Wäre aber in diesem Gebot unter dem Stehlen die willkürliche und eigenmächtige Wegnahme des Gutes eines anderen verstanden gewesen, so fiele, wie es im Verlaufe dieser Darstellung hinreichend klar gezeigt wurde, notwendig der unfehlbare Tadel auf den Gesetzgeber, indem Er dadurch gewisserart stillschweigend dem Erwerb, der Industrie und somit auch dem Wucher das Wort gesprochen hätte. Denn das muss doch jedem Menschen auf den ersten Blick in die Augen fallen, so er nur im geringsten Maße eines etwas helleren Denkens fähig ist, dass alsbald das Eigentumsrecht als vollkommen sanktioniert und bestätigt eingeführt ist, sobald man ein Gesetz gibt, durch welches das Eigentum eines jeden als vollkommen gesichert erscheinen muss.
[2.83.3] Wie könnte man aber doch auf der anderen Seite ein solches Gesetz von demjenigen Gesetzgeber erwarten, der mit Seinem eigenen Munde zu Seinen Schülern gesprochen hat: „Sorgt euch nicht, was ihr essen und trinken werdet und womit euren Leib bekleiden, denn das alles ist Sache der Heiden. Sucht vor allem das Reich Gottes; alles andere wird euch schon von selbst hinzufallen.“
[2.83.4] Weiter spricht derselbe Gesetzgeber: „Die Vögel haben ihre Nester und die Füchse ihr Geschleif, aber des Menschen Sohn hat nicht einen Stein, den Er unter Sein Haupt lege!“ Wieder auf einer anderen Seite sehen wir Seine Schüler sogar an einem Sabbat Ähren abraufen, also offenbar stehlen. Als sich aber die Eigentümer des Ackers darüber beschwerten, sagt: wer bekam da von dem großen Gesetzgeber den Verweis und eine ganz tüchtige Zurechtweisung? Ihr braucht nur im Buch nachzusehen und es wird euch alles klar sein.
[2.83.5] Weiter sehen wir denselben Gesetzgeber einmal in der Lage, einen Mautzins entrichten zu müssen. Hat Er in Seine eigene Tasche gegriffen? O nein, sondern Er wusste, dass im nahen See ein Fisch einen verlorenen Stater verschluckt hatte. Der Petrus musste hingehen und dem durch die Kraft des Herrn gehaltenen Fisch die Münze aus dem Rachen nehmen und mit derselben den Mautzins bezahlen.
[2.83.6] Ich frage aber: Hat nach euren Eigentumsrechten der Finder auf ein auf was immer für Weise gefundenes Gut das disponible Eigentumsrecht? Musste der große Gesetzgeber nicht wissen – oder wollte Er es nicht wissen –, dass Er von diesem im Fisch gefundenen Gut nur auf ein Drittteil das disponible Eigentumsrecht hatte, und das nur nach der vorausgegangenen öffentlichen oder amtlichen Bekanntgebung seines Fundes? Er hat aber solches nicht getan. Sonach hat Er ja offenbar einen zweidrittelteiligen Diebstahl gemacht, oder eine Veruntreuung, was ebenso viel ist.
[2.83.7] Ferner ließe sich nach den Rechtsprinzipien fragen – wenn man voraussetzt, dass nur gar wenige Juden es in der Fülle wussten, wer eigentlich Christus war –, wer Ihm das Recht eingeräumt hatte, die bekannte Eselin ihrem Eigentümer abnehmen zu lassen und sie dann Selbst nach Seinem Gutdünken zu gebrauchen.
[2.83.8] Man wird hier sagen: Er war ja der Herr der ganzen Natur und Ihm gehörte ja ohnehin alles. – Das ist richtig, aber wie spricht Er denn in weltlicher Hinsicht, dass des Menschen Sohn keinen Stein habe, und auf der anderen Seite spricht Er Selbst, dass Er nicht gekommen ist, um das Gesetz aufzuheben, sondern dasselbe nur zu erfüllen bis auf ein Häkchen.
[2.83.9] Wenn wir Seine Geschichte verfolgen wollten, so würden wir noch so manches finden, wo der große Gesetzgeber nach den gegenwärtigen Eigentumsrechtsprinzipien und nach der umfassenden juridischen Erklärung des siebten Gebotes gegen eben diese Rechtsprinzipien sich offenbar vergriffen hat. Was würde hier jemandem geschehen, so er einem Eigentümer einen Baum zerstörte oder so er eine ganze große Herde von Schweinen vernichtete und dergleichen mehr? Ich meine, wir haben der Beispiele genug, aus denen sich mehr als klar ersehen lässt, dass der große Gesetzgeber mit diesem siebten Gebot einen ganz anderen Sinn verbunden hat, als er nach der Zeit von der habsüchtigen und eigennützigen Menschheit ausgeheckt worden ist.
[2.83.10] Man wird sagen: Das ist nun ganz klar und ersichtlich; aber welchen Sinn Er damit verbunden hat, das liegt noch hinter einem starken Schleier! – Ich aber sage: Nur Geduld! Haben wir bis jetzt die falsche Auffassung dieses Gebotes gehörig beleuchtet, so wird sich die rechte Bedeutung in diesem Gebot sicher auch leicht finden lassen; denn vermag jemand die Beschaffenheit der Nacht zu durchblicken, dem wird es doch wohl nicht bange sein dürfen, dass er am Tag zu wenig Licht haben wird.
[2.83.11] Was heißt denn hernach im wahren eigentlichen Sinne: „Du sollst nicht stehlen?“ Im eigentlichen wahren Sinne heißt das so viel:
[2.83.12] Du sollst nimmer die göttliche Ordnung verlassen, dich nicht außer dieselbe hinausstellen und der Rechte Gottes bemächtigen wollen.
[2.83.13] Was sind aber diese Rechte und worin bestehen sie? Gott allein ist heilig und Ihm allein kommt alle Macht zu! Wen Gott Selbst heiligt und ihm die Macht erteilt, der besitzt sie rechtmäßig; wer sich aber selbst heiligt und die göttliche Macht an sich reißt, um im Glanz derselben eigennützig und habsüchtig zu herrschen, der ist im wahrhaftigen Sinne ein Dieb, ein Räuber und ein Mörder!
[2.83.14] Wer sonach sich eigenmächtig und selbstliebig durch was immer für äußere Schein- und Trugmittel, mögen sie irdischer oder geistiger Art sein, über seine Brüder erhebt, der ist’s, der solches Gebot vollkommen übertritt. In diesem Sinne wird es auch diesen Kindern hier gelehrt, und ihnen auf praktischem Wege gezeigt, dass da kein Geist je die ihm innewohnende Kraft und Macht eigenmächtig gebrauchen soll, sondern allzeit nur in der göttlichen Ordnung.
[2.83.15] Man wird aber jetzt sagen: Ja, wenn so, da ist das bekannte Stehlen und Rauben ja erlaubt. – Ich aber sage: Nur Geduld, die nächste Folge soll alles ins klare Licht bringen. Für jetzt aber wollen wir uns mit dem zufriedenstellen, indem wir einmal wissen, was da unter dem Stehlen zu verstehen ist, und dass der Herr durch dieses Gebot nie ein Eigentumsrecht eingeführt hat.
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