(Am 4. Oktober 1843 von 4 1/2 – 5 3/4 Uhr abends.)
[2.82.1] Wir sind im siebten Saal; und seht, in der Mitte desselben auf einer an einer lichten weißen Säule befindlichen Tafel steht mit deutlich leserlicher Schrift geschrieben: „Du sollst nicht stehlen!“ Hier drängt sich beim ersten Anblick dieser Gesetzestafel doch sicher einem jeden sogleich die Frage auf:
[2.82.2] Was sollte hier gestohlen werden können, da niemand ein Eigentum besitzt, sondern ein jeder nur ein Fruchtnießer ist von dem, was der Herr gibt? Diese Frage ist natürlich und hat ihren guten Sinn, kann aber auch eben mit dem[selben] Recht auf dem Weltkörper aufgestellt werden; denn auch auf dem Weltkörper gibt alles, was da ist, der Herr, und doch können die Menschen einander bestehlen auf alle mögliche Art.
[2.82.3] Könnte man da nicht auch fragen und sagen: Hat der Herr die Welt nicht für alle Menschen gleich geschaffen, und hat nicht jeder Mensch das gleiche Recht auf alles, was die geschaffene Welt zum verschiedenartigen Genuss bietet? So aber der Herr sicher die Welt nicht nur für einzelne, sondern für alle geschaffen, und ein jeder das Recht hat, die Produkte der Welt nach seinem Bedürfnis zu genießen, – wozu war denn hernach dieses Gebot gut, durch welches den Menschen offenbar irgendein Eigentumsrecht eingeräumt ward, durch welches erst hernach ein Diebstahl möglich geworden ist? Denn wo kein Mein und kein Dein ist, sondern bloß ein allgemeines Unser aller, da möchte ich den doch sehen, der da bei dem besten Willen seinem Nächsten etwas zu stehlen vermöchte.
[2.82.4] Wäre es demnach nicht klüger gewesen, statt dieses Gebotes, durch welches ein abgesondertes Eigentumsrecht gefährlichermaßen eingeräumt wird, alles Eigentumsrecht für alle Zeiten aufzuheben, wodurch dieses Gebot dann vollkommen entbehrlich würde, alle Eigentumsgerichte der Welt nie entstanden wären, und die Menschen auf die leichteste Weise untereinander als wahrhafte Brüder leben könnten?
[2.82.5] Dazu muss man noch bedenken, dass der Herr dieses Gebot durch Moses gerade zu einer solchen Zeit gegeben hat, wo aber auch nicht ein Mensch aus allen den überaus zahlreichen Israelskindern irgendein eigenes Vermögen hatte; denn was da das mitgenommene Gold und Silber aus Ägypten betrifft, so war es ein Eigentum des ganzen Volkes unter der Aufsicht ihres Anführers.
[2.82.6] Was aber die Kleidung betrifft, so war sie höchst einfach und dabei so armselig, dass da ein einziges Kleidungsstück in eurer gegenwärtigen Zeit sicher nicht den Wert von einigen schlechten Groschen übersteigen würde. Und dazu hatte nicht einer aus den Israeliten einen Kleidungsvorrat, sondern was er am Leib trug, das war alles, was er besaß.
[2.82.7] Dazu kam hernach dieses Gebot. Und sicher musste das israelitische Volk einander mit großen Augen fragen: Was sollen wir einander nicht stehlen? Etwa unsere Kinder, da doch ein jeder froh ist in dieser gegenwärtigen bedrängten Lage, wenn er so kinderarm als möglich ist? Sollten wir uns gegenseitig etwa unsere Töpfe stehlen? Was sollten wir aber dabei gewinnen? Denn wer da keinen Topf hat, der hat ohnedies das Recht, sich im Topf seines Nachbarn, so er etwas Kochbares hat, mitzukochen. Hat er aber einen Topf, da wird er es nicht notwendig haben, sich noch eines zweiten zu bemächtigen, um dadurch noch mehr zum Hin- und Herschleppen zu haben. Es ist fürwahr nicht einzusehen, was wir hier einander stehlen könnten. Etwa die Ehre? Wir sind alle Diener und Knechte eines und desselben Herrn, der den Wert eines jeden Menschen gar wohl kennt. So wir einander auch gegenseitig verkleinern wollten, was würden wir dadurch erzwecken im Angesicht dessen, der uns allzeit durch und durch schaut? Also wissen wir durchaus nicht, was wir aus diesem Gebot machen sollen. Soll dieses Gebot für künftige Zeiten gelten, falls uns der Herr einmal ein Eigentum absonderlich einräumen wollte? Wenn das, da lasse Er uns lieber so, wie wir sind, und das Gebot hebt sich von selbst auf.
[2.82.8] Seht, also räsonierte im Ernst auch hier und da das israelitische Volk, und solches war ihm auch für seine Lage in der Wüste nicht zu verdenken; denn allda war jeder gleich reich und gleich groß, d. h. in seinem Ansehen.
[2.82.9] Könnte aber nun nicht das gegenwärtige gläubige Volk neutestamentlich mit dem Herrn also räsonierend aufbegehren und sagen: O Herr! warum hast Du denn dereinst ein solches Gebot gegeben, durch welches mit der Zeit den Menschen auf der Erde ein absonderliches Eigentumsrecht eingeräumt ward und durch welches ferner eben zufolge dieses eingeräumten Eigentumsrechtes sich eine zahllose Menge von Dieben, Straßenräubern und Mördern gebildet hat? Hebe daher dieses Gebot auf, damit das Heer der Diebe, Mörder und Räuber und allerlei Betrüger und ein zweites Heer der Weltrichter aufhören möchte, jegliches in seiner Art aller Nächstenliebe ledig, tätig zu sein!
[2.82.10] Ich sage hier: Der Aufruf lässt sich hören und erscheint unter dieser kritischen Beleuchtung als vollkommen billig. Wie und warum denn? Fürs Erste kann man von Gott als dem allerhöchst liebevollsten Vater doch sicher nichts anderes als nur das allerhöchst Beste erwarten. Wie sollte man da wohl denken können, Gott, als der allerbeste Vater der Menschen, habe ihnen da wollen eine Verfassung geben, welche sie offenbar unglücklich machen muss, und das zwar zeitlich und ewig?
[2.82.11] Wenn man aber Gott doch sicher die allerhöchste Güte, die allerhöchste Weisheit und somit die sichere Allwissenheit notwendig zuschreiben muss, derzufolge Er doch wissen müsste, welche Früchte ein solches Gebot unfehlbar wird tragen müssen, da kann man ja doch nicht umhin zu fragen: Herr! warum hast Du uns solch ein Gebot gegeben? Warum uns durch dasselbe nicht selten namenlos unglücklich gemacht? War es im Ernst Dein Wille also, oder hast Du dieses Gebot nicht gegeben, sondern die Menschen haben es erst nachträglich eingeschoben ihres Eigennutzes wegen, indem sie sich etwa vorgenommen haben, sich von der allgemeinen Zahl ihrer Brüder abzusondern und sich in solchem Zustand dann berechtigtermaßen eigentümliche Schätze zu sammeln, und durch ihre Hilfe sich dann desto leichter als Herrscher über ihre gesammelten armen Brüder zu erheben? Seht, alles das lässt sich hören, und kann solches niemand in Abrede stellen. Und man muss noch obendrauf einem menschlichen Verstand einige Körner echten Weihrauchs streuen, so er es in dieser Zeit wenigstens der Mühe wert gefunden, die Gesetze Moses auf diese Weise kritisch zu beleuchten. Aber wer hat bei dieser Kritik etwas gewonnen? Die Menschen nichts und der Herr sicher auch nicht, denn es spricht sich in dieser Kritik offenbar nicht die göttliche Liebe und Weisheit aus.
[2.82.12] Wie aber soll denn dieses Gesetz genommen und betrachtet werden, damit es als vollkommen geheiligt vor Gott und allen Menschen erscheint, dass es ausspreche die höchst göttliche Liebe und Weisheit und in sich trage die weiseste Fürsorge des Herrn zum zeitlichen und ewigen Glückseligkeitsgewinn? So, wie es bis jetzt erklärt ward, besonders in der gegenwärtigen Zeit, hat es freilich nur Unheil verbreiten müssen. Daher wollen wir nach der Erbarmung des Herrn die wahre Bedeutung dieses Gebotes enthüllen, auf dass die Menschen in selbem fürder ihr Heil, aber nicht ihr Unheil finden sollen. Um aber das zu bewerkstelligen, werden wir vorerst betrachten, was da unter dem Stehlen verstanden werden muss.
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