(Am 26. Juni 1843 von 4 3/4 – 7 Uhr nachmittags.)
[2.31.1] Seht, schon wieder eine herrliche Allee vor uns, die sich ebenfalls wieder gegen das Ende verengt; das ist bereits schon die dritte, welche wir betreten. Wenn ihr diese drei Alleen so nacheinander betrachtet, so stecken sie gewisserart ineinander wie drei aufeinander gesteckte Kegel, von denen die Endspitze immer in die Basis des folgenden hineinfällt; denn wenn die erste Allee mit ihren Linien fort liefe, so müssten sich dieselben eben auf dem Punkt kreuzen, da wir das erste Monument angetroffen haben. Aber die Berechnung ist so gestellt, dass die beiden Baumlinien gerade dort aufhören, wo wir nach der Beendung einer Allee allzeit ein großes Baumrondeau angetroffen haben, in dessen Mitte das Ornament stand. Daher fängt jetzt diese dritte Allee ebenfalls wieder sehr breit an und wird am Ende, wie die früheren, recht schmal enden.
[2.31.2] Könnte da nicht allenfalls jemand sagen: Aber ich finde die Sache durchaus nicht ästhetisch? Entweder soll die Allee gleichlinig fortlaufen, oder sie soll verhältnismäßig breiter werden, und das zwar in dem Verhältnis auseinander laufend, in welchem Verhältnis sich sonst eine parallel laufende Allee scheinbar verengt. Auf diese Weise würde dann so eine Allee von ihrem Anfang das scheinbare Ansehen eines länglichen Quadrates oder einer vollkommen gleichweiten Bahn bis ans Ende bekommen. Solch eine Anlage würde mehr Wissenschaft und Geist verraten, als solch eine Zusammenschrumpfung einer Allee.
[2.31.3] Dieses ist zwar richtig; solch eine Anlage muss für das Auge offenbar drückend erscheinen, besonders bei einer solchen Länge, wie diese da ist. Aber die Menschen, welche allhier diese Allee angelegt haben, haben einen viel höheren Zweck damit verbunden als allein den der Ästhetik nur. Und so bezeichnen diese drei Alleen ganz vollkommen sinnig und richtig den Eingang vom Materiellen in das geistige, innere Leben.
[2.31.4] Wie aber soll solches begriffen werden? Das werden wir gar leicht herausbringen; denn Ähnliches befindet sich auch auf eurer Erde, wenn gerade nicht auch durch eine Allee ausgedrückt. Einige Beispiele werden uns diese Sache bei Gelegenheit der Durchwanderung dieser dritten Allee, in welcher ohnehin nicht viel Erhebliches zu beschauen ist, ganz vollkommen erhellen.
[2.31.5] Nehmen wir an, irgendein eines Faches kundiger Mann schreibt für ebendieses sein Fach ein Buch. Dieses Buch fängt zuerst mit einer nicht selten überaus breiten und dazu auch gehörig langweiligen Vorrede an, und gewöhnlich ist die Vorrede allzeit um desto umfangreicher, je geist- und umfangschmäler das darauffolgende Werk selbst ist. Diese Vorrede beengt sich nach und nach auf eine ganz einfache und zugleich auch nicht selten schmale Nutzverheißung, wo es gewöhnlich mit wenigen Worten gesagt ist, was ehedem unnötigerweise die ganze Vorrede gesagt hat. Die Vorrede wäre glücklicherweise zu Ende. Dieser folgt ein leeres, weißes Blatt, auf welchem manchmal nichts, manchmal aber mit großen Buchstaben das wichtige Wort: Einleitung steht. Blättert man dieses verhängnisvolle Blatt um, so fängt dann eben wieder eine noch breitere Einleitung an, als wie breit ehedem die Vorrede war. In dieser Einleitung kommt eigentlich, so wie in der Vorrede, nichts anderes vor, als nur eine etwas breiter gehaltene Belobung und Anempfehlung des darauffolgenden Hauptwerkes. Womit endet aber diese mehrere Ellen lange Einleitung? Gewöhnlich mit ähnlichen kurzen Ausdrücken: Wir wollen uns nicht länger mehr mit den Vorbegriffen abgeben, sondern zur Hauptsache selbst schreiten; alldort wird der geehrte Leser alles gehörig beleuchtet finden, was in dieser Einleitung nur kurz berührt werden konnte. – Und das ist aber dann auch schon das Ende.
[2.31.6] Warum hat denn der Verfasser seine Einleitung so breit angefangen und ließ sie gar so entsetzlich schmal enden? Hätte er sie nicht ebenso gut ganz weglassen können? Wir können diese Frage weder bejahen, noch verneinen, ob sie fest für seinen Zweck taugt; ob sie auch für den Zweck des Lesers taugt, das wird der Leser, wenn er das ganze Werk wird durchgelesen haben, am leichtesten bestimmen.
[2.31.7] Nach dieser Einleitung kommt dann das Hauptwerk selbst. Was wird wohl etwa in diesem vorkommen, welches ebenfalls wieder sehr breit und vielverheißend anfängt? Sicher nichts anderes als dasjenige mit noch etwas mehr Worten gesagt, als was schon in der Vorrede und in der Einleitung gesagt worden ist. Und so endet der Geograph sein Werk mit der Darstellung gewöhnlich eines sehr unbedeutenden Fleckens; denn für große Orte hat er einen besseren Platz, und sie stehen allzeit mehr im Anfang.
[2.31.8] Der Mathematiker setzt am Ende seines tiefdurchdachten Werkes gewöhnlich noch einige kurze noch unaufgelöste Aufgaben hinzu, von denen gewöhnlich die letzte die am wenigsten sagende ist.
[2.31.9] Der Geschichtsschreiber verspart auch das allerunbedeutendste Faktum für die allerletzte Blattseite, während er im Anfang ganz entsetzlich breite Blicke über die ganze Erdoberfläche warf; und so dürft ihr – mit Ausnahme des Wortes Gottes – fast alle Werke betrachten, und ihr werdet finden, dass sie am Ende ganz schmal hinausgehen. Das wäre ein Beispiel, welches hoffentlich hinreichend durchleuchtet ist.
[2.31.10] Betrachten wir aber den Bau eines Hauses, eines Turmes oder einer Kirche; wie breit geht es von Anfang zu, und am Ende endet das Haus in ein zusammenlaufendes Dach, der Turm in seine Spitze und die Kirche auch gewöhnlich in ein sehr spitzig zusammenlaufendes Dach. Dieses Beispiel bedarf keiner weiteren Beleuchtung; denn der tägliche Anblick gibt hierzu die rechte Erklärung.
[2.31.11] Ein drittes Beispiel gibt euch die Betrachtung eures zeremoniellen Gottesdienstes. Mit großem Pomp wird aus der sogenannten Sakristei gezogen und wird sich dann vor dem Altar wie im Hintergrund der Kirche am musikalischen Chor stets breiter und breiter gemacht; aber allenfalls nach der dritten Messzeremonie werden die Messteile schon kürzer und auch gewöhnlich weniger sagend, und dort, wo man eigentlich die größte Breite erwarten sollte, nämlich bei der Gelegenheit der sogenannten Aufwandlung, da sieht es schon sehr schmal aus, dann wird es immer schmäler, bis sich endlich alles in das überaus kurze „Ite, missa est“ verliert.
[2.31.12] Ein sogenanntes Schauspiel bei euch fängt nicht selten überaus geheimnisvoll breit an und endigt sich dann gewöhnlich in einer überaus wenig sagenden Blindheirat. Also fangen auch eure musikalischen Stücke samt den musikalischen Instrumenten sehr breit an und enden nicht selten so schmal, dass man im Ernst sagen müsste: Für diesen letzten höchst einfachen Ausgang hätte es fürwahr nicht so viel Aufhebens gebraucht. So fängt auch eure Tonleiter mit einem donnerähnlichen, breitschwebenden, tiefen Basston an und endet am Ende in den schönsten Chorden mit einem überaus feinen und schmalen Mausquietscher. Habt ihr schon genug an den Beispielen?
[2.31.13] Da wir aber die Allee noch nicht gar zu Ende gebracht haben, und uns eben in einer schon recht tüchtigen Enge derselben befinden, so können wir ja auch noch ein Beispiel zum größten Überfluss hinzufügen, welches uns in unsere Sache ein überaus helles Licht geben soll; denn im Geist geht es wie auf der Welt. Auf der Welt haben die Menschen nie zu viel Geld; und hat jemand noch so viel, so wird er es nicht verschmähen, noch mehr hinzuzubekommen. Desgleichen hat man im Geist auch nie zu viel Licht; und so wünscht der Weise, noch immer weiser zu werden. Darum wird uns auch dieses Beispiel nicht überflüssig sein, da es das Licht vermehrt.
[2.31.14] Wie lautet aber dieses Beispiel? Das liegt euch sehr nahe; ihr dürft nur einen Blick in die gegenwärtige Erziehung eurer Kinder tun, und ihr habt das ganze Beispiel schon auf einem Haufen beisammen. Was für großartige und breite Pläne macht oft ein bemitteltes Elternpaar für seine Kinder? Der Sohn muss studieren und daneben noch allerlei andere Künste und Fertigkeiten sich eigen machen; und für die Tochter laufen wenigstens ein halbes Dutzend allerlei Meister ins Haus. Die Sache sieht ja aus, als sollte aus dem Sohn ein Regent und aus der Tochter das Weib eines Herrschers werden. Endlich hat der Sohn seine Studienbahn vollendet und die Tochter sich aus den meisterlichen Krallen mit allerlei eben nicht vielsagenden Fertigkeiten entwunden. Was geschieht aber jetzt?
[2.31.15] Der wohlgebildete und vielstudierte Sohn wird in eine enge Kanzlei auf eine schmale Praktikantenbank geschoben, von der aus eben nicht die größte Fernsicht genommen werden kann, und bei der Tochter heißt es: Nun müssen wir sie auch ein wenig fürs Häusliche erziehen lassen. Wenn ihr diese Stellung nur ein wenig aufmerksam betrachtet, so kann euch die sich stets mehr verengende Allee des anfangs so breit projektierten menschlichen Lebens unmöglich entgehen.
[2.31.16] Aber für den Sohn fängt bald nach seiner sehr schmalen Praxissphäre wieder eine etwas breit anfangende Amtsallee an, und die Tochter wird an einen Mann verheiratet, von dem man anfangs auch sehr viel Breites erwartete. Aber die Amtssphäre des Sohnes schmälert sich endlich im Pensionsstand schon wieder ein, und die Aussichten der verheirateten Tochter gewinnen auch durchaus nicht an Breite, sondern wie bei ihr so manche weibliche Vorteile nach und nach sich verflüchtigen, so wird sie am Ende samt den Aussichten schmäler.
[2.31.17] Nun, was aber ist das Finale der dritten Lebensallee? Ich meine, dieses darf ich euch nicht näher bezeichnen; ihr dürft nur in den nächstbesten Friedhof gehen, allda werdet ihr eine Menge Ausläufer menschlicher breit angefangener Lebensalleen finden.
[2.31.18] Und seht, in eben diesem Sinne bauen diese Sonnenmenschen alles geradeso, wie es den Lebensverhältnissen vollkommen entspricht.
[2.31.19] Einst bauten die Menschen der Erde auch ähnlichermaßen. Die sogenannten ägyptischen Pyramiden sind noch sprechende Zeugen dafür; denn diese großartigen Gebäude waren nichts als Grabmäler großer und mächtiger Menschen. Je größer und mächtiger einer war, eine desto größere Pyramide ließ er sich als Grabmal erbauen. Wer sie zuunterst messen möchte, der würde auf bedeutende Unterschiede stoßen; aber zuoberst liefen alle auf eine ganz haargleiche Spitze aus.
[2.31.20] Ähnliche Weisheit in noch viel tüchtigerem Maßstab finden wir denn auch hier auf dieser Lichtwelt, wo die Menschen besonders dieses Kreisgebietes wahrhaftige Grundweise sind. Jedoch die Folge wird uns davon Helleres bieten.
[2.31.21] Da wir aber bei dieser Gelegenheit unserer Unterwegs-Beredung wieder an das erwünschte, hier im Ernst sehr schmale Ende der Allee gekommen sind, so wollen wir nun auch wieder einen mutigen Blick vorwärts tun und sehen, ob sich da kein Geheimnis mehr vorfindet, das uns nötigen dürfte, unsere gerade Linie beugen zu müssen. Bis jetzt erschaue ich außer der uns schon nahe stehenden großen Ringmauer kein Hindernis, daher können wir uns über diese freie noch übrige Ebene bis zur Mauer schon ganz ungehindert bewegen. Wie es uns aber bei der Mauer ergehen wird, das wird die Erfahrung selbst zeigen, daher nur mutig bis zur Mauer hingeschritten!
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