(Am 24. Juni 1843 von 4 1/4 – 6 1/3 Uhr nachmittags.)
[2.30.1] Die vor uns liegende offene Allee ist zwar etwas enger als die vorhergehende, allein diese Erscheinung ist für den Fortschritt auf unserer geraden Linie nicht im Geringsten hinderlich, sondern gerade nur das Gegenteil, denn je enger irgendeine Gasse wird, desto leichter ist ja die Mitte derselben zu beobachten und in der Mitte in gerader Richtung fortzugehen.
[2.30.2] Solche Erscheinung hat ja aber darin ihren Grund, dass alle diese Alleen strahlenförmig von dem Zentrum des Hauptgebäudes heraus bemessen und angelegt sind; und könnten wir von der Höhe gerade über dem Hauptgebäude herabblicken, so würden wir diese ganze Prachtanlage wie eine ausstrahlende Sonne erblicken.
[2.30.3] Und seht, das ist schon ein gutes Zeichen; also ist ja die gerade Linie schon bedungen, wir dürfen dieser nur folgen, und es kann sich gar nicht fehlen, dass wir baldmöglichst das Hauptziel erreichen. Wir sind schon, wie ihr seht, gut über die Hälfte dieser zweiten Allee geschritten, und es lässt sich darum schon recht gut das vorliegende Ende erschauen. Aber ich bemerke schon soeben wieder hinter dem Abschluss dieser Allee ein neues Hindernis glänzen, welches uns von der geraden Bahn ein wenig ablenken möchte. Wir aber wollen dieses vorliegenden zweiten Hindernisses kaum mehr gedenken; denn wie das erste wird auch dieses zweite uns den gerechten Platz machen müssen.
[2.30.4] Was aber ist etwa, das uns da entgegenstrahlt? Nur einige beschleunigte Schritte noch und da seht einmal hin, ja fürwahr, da kann man sich beim ersten Anblick ja nicht einmal genug fassen; denn zu groß ist die Pracht dieser Allee-Verzierung. Was wären da auf der Erde alle noch so kunstvoll ausgedachten Wasserkünste und Feuerwerks-Evolutionen! Da sprüht es ja nur von erhabener Pracht und Herrlichkeit.
[2.30.5] Seht, die Platte, welche dieses zweite große Baumrondeau wie in einem Stück überpflastert, sieht doch gerade so aus wie eine kleinwellige Oberfläche eines allerreinsten Wassers, und dennoch ist die Fläche vollkommen eben und überaus fest. Das Sonderbarste bei dieser ganzen Geschichte ist nur das, dass man durch eine merkwürdige Strahlenbrechung wirklich in seinem Gesicht so sehr getäuscht wird, dass man die Oberfläche dieser Pflasterung wie fort und fort wellend erschaut, und jede Wellenwendung erstrahlt in einem anderen Licht. Das will ich denn doch ein brillantes Strahlenspiel nennen!
[2.30.6] Und in der Mitte dieses weiten Baumrondeaus ist eine Säule aufgestellt, und diese hat gerade das Ansehen, als so man bei euch auf der Erde eine Wasserhose erschauen möchte. Seht nur, wie sich ein förmliches Wasser wie in Wirbelkreisen sprudelnd auf und ab zu treiben scheint, und ein jeder Wirbel erstrahlt fortwährend abwechselnd in tausend Farben; und seht und fühlt diese Säule an, sie ist bei all dieser scheinbaren Lebendigkeit fest wie ein Diamant. Fürwahr, wer diese Materialzusammensetzung und Bearbeitung solch einer Zierde nicht für ziemlich stark wunderbar hält, von dessen Munde möchte ich doch selbst vernehmen, was ihm ein Wunder deucht.
[2.30.7] Und da seht noch ganz hinauf zur Spitze dieser Säule, wie sie dort in überaus strahlende Äste gleich einer Trauerweide ausläuft und anstatt der Blätter allerlei strahlende Zäpfchen herabhängen lässt.
[2.30.8] Ja, was sagt ihr denn zu dieser Pracht? Fürwahr, ihr seid mit Recht stumm; denn fürs Gefühl lässt sich dergleichen nicht beschreiben, und man muss zufrieden sein, wenn man nur einen höchst matten Schattenriss davon selbst mit der größten und glühendsten Sprachfertigkeit hat entwerfen können.
[2.30.9] Es wäre sonst alles recht, wenn sich diese ganze herrliche Geschichte nur nicht in der Mitte unserer Wandellinie befände. Was meint ihr wohl, wird sich auch diese Allee-Zierde also wie die vorhergehende teilen lassen? Bei der ersten könnte man noch eher versucht werden zu glauben, die ganze Sache beruhte auf künstlich mechanischen Grundsätzen und war darum auch leicht auseinander bewegbar; aber bei dieser höchst kolossalen Zierde dürfte wohl ein jeder Mechanismus zu kurze und zu schwache Arme bieten, um diese gar mächtige Säule nach der vorerst geschauten Art zu entzweien. Was sollen wir denn nun tun? Ihr sagt: Derjenige, der das erste Hindernis geteilt hat, der Herr nämlich, wird auch mit diesem zweiten sicher gar leicht fertig werden.
[2.30.10] Ihr habt recht geantwortet. Aber es muss dabei etwas beobachtet werden, was ihr bisher noch nicht kennt, und so hört denn: Der Herr ist zwar überall der allmächtige Helfer und Besieger aller Hindernisse, aber Er muss auch nach dem Grad und Maß des Hindernisses zu Hilfe gerufen werden, sodann erst wird es geschehen, was da geschehen soll.
[2.30.11] Ihr sagt hier freilich: Ja, warum aber das? So wir den Herrn um Hilfe anflehen, da wird Er uns wohl nicht weniger helfen, als wir es vonnöten haben. – Ich aber sage euch: Ihr habt in einer Hinsicht zwar wohl recht, aber nur insoweit, als ihr daneben irrigerweise anzunehmen genötigt seid, dem Herrn sei wenig oder gar nichts daran gelegen, wie euer eigenes Erkenntnisvermögen bestellt ist. So etwas aber anzunehmen, meine ich, dürfte doch ein wenig zu töricht sein.
[2.30.12] Der Herr aber will ja vor allem die Selbsterkenntnis der Kinder erheben; daher lässt Er auch alles von ihnen eher beurteilen und bemessen, also auch ihre Not, auf dass sie Ihm dann dieselbe nach ihrem Erkenntnis vortragen sollen, und Er ihnen dann helfe nach ihrem eigenen Erkenntnis und Verlangen.
[2.30.13] Aus diesem Grunde aber, meine lieben Brüder und Freunde, soll da auf der Erde auch niemand ein sündiges Hindernis auf der eben sein sollenden Bahn seines Lebens mit einem leichtfertigen Maßstab bemessen, sonst muss er sich selbst zuschreiben, wenn ihm nach vielen Gebeten nicht die völlige erwünschte Hilfe wird.
[2.30.14] Denn der Herr ist zwar überaus liebevollst gut und freigebig mit Seiner Gnade und Erbarmung, aber dabei dennoch stets im vollkommensten Grad respektierend die freie Tätigkeit des Geistes in jeder Beziehung, sowohl in der Willens- als in der Erkenntnissphäre.
[2.30.15] Unter uns aber gesagt, tut ein jeder Mensch für sich genommen besser, wenn er in Anbetracht seiner selbst, wie ihr zu sagen pflegt, aus einer Mücke einen Elefanten macht, als umgekehrt, und es wird dann sein, dass derjenige, der von solch einem Standpunkt aus um vieles bittet, auch viel empfangen wird; wer aber um weniges bittet, der erwarte ja nicht, dass ihm der Herr ein unerkanntes und unverlangtes Plus auf den Rücken nachwerfen wird.
[2.30.16] Tut ihr ja auch das Gleiche auf der Erde untereinander. Warum sollte es der Herr nicht tun, der dafür den liebeweisesten Grund hat? Wird wohl selbst ein allerbestgesinnter reicher Mann einem, der ihn bittet, ihm zweihundert Taler zu leihen, allenfalls streng benötigte zweitausend Taler geben? Ich sage euch: Solches wird er nicht tun, und wüsste er es auch augenscheinlichst, dass der bittende Entleiher unumgänglich notwendig der größeren Summe vonnöten hat.
[2.30.17] Er wird wohl allenfalls aus dem edlen Grund seines Herzens zum Entleiher sagen: Ich leihe dir recht gern die verlangte Summe, wenn sie dir in deinem Bedürfnis nur genügen wird. Wenn bei solch einem Stupfer der Entleiher sich noch immer in seinen blindtörichten Schüchternheitsschranken bewegt und bleibt bei seiner ersten Petition, sagt euch selbst, wer dann die Schuld trägt, wenn es dem Entleiher mit 200 Talern nicht gedient ist.
[2.30.18] Aus dem Grunde aber soll sich ein jeder genau erforschen und seine Not genau bemessen, und dann erst sich an den heiligen, allmächtigen Helfer wenden, so wird ihm schon sicher die gerechte Hilfe werden, wenn er dieselbe glaubensfest, vertrauensvoll und liebeernstlich von Ihm erwartet.
[2.30.19] Und so denn wollen und müssen nun auch wir hier den Herrn ein wenig fester angehen als beim ersten Hindernis, so wird uns auch hier der Herr die Bahn öffnen. Worin aber besteht die größere Festigkeit in dem Angehen des Herrn?
[2.30.20] Der Schmied sagt zu seinem Gesellen: Zur Schmelzung von wenig Eisen genügt auch eine geringere Kohlenglut, und die Esse braucht dazu den Atem nicht zu tief zu holen. – Wenn aber ein großer Klumpen Eisen soll geschmolzen werden, da spricht der Schmiedmeister zu seinem Gesellen: Nun bringe drei Körbe fester Kohle, und lass die Esse festweg gehen, sonst wird der große Metallklumpen kaum in die Rotglühhitze gelangen. – Ich meine, diese Schmiedmeistersregel, welche doch so ziemlich mit Händen zu greifen ist, wird auch für uns gar überaus wohl anzuwenden sein. Mehr Kohle, mehr Essenwind heißt so viel: Mehr Liebe und mehr Vertrauen, und es wird werden nach dem gläubigen Verlangen!
[2.30.21] Ich habe bei mir das getan, und ihr musstet es tun in mir, und seht, diese Wasserhosensäule ist schon wieder geteilt, und wir können mit der leichtesten Mühe von der Welt nun wieder unseren Marsch weiter fortsetzen.
[2.30.22] Versteht ihr aber auch dieses zweite Hindernis, welches voll trüglichen Scheines ist und zeigt sich, als wäre es lebendig in allen Ecken und Winkeln? Rührt man es aber an, da ist es überall hart und widerstrebend fest. Seht, sich durch die Irrtümer durchzuarbeiten, ist ein bei weitem Leichteres; denn wer nur einigermaßen geweckten Geistes ist, wird die niedrige Dummheit bald leicht von der glänzendst reinsten Wahrheit zu trennen imstande sein, und das ist die Besiegung des ersten Hindernisses. Aber hier ist die Welt im Gesamtmaßstab mit all ihrer buntstrahlenden Flitterei; und es braucht bei weitem mehr, um dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen als das frühere.
[2.30.23] Es gibt sicher recht viele Menschen auf der Erde, welche schon lange die Wahrheit in ihrem strahlenden Licht erkannt haben. Aber von der Welt können sie sich doch nicht trennen; denn ihre Strahlen sagen ihnen zu sehr zu. Wie viel solcher anlockender Flitterstrahlen aber die Welt in sich fasst und wie beschaffen diese sind, kann euch eine nur ein wenig scharfe Betrachtung dieser Alleeverzierung auf ein Haar zeigen. Besitztümer, Geld, allerlei Bequemlichkeiten, guter Tisch, schöne, honette Kleider und dergleichen noch sehr viel mehreres sind noch gar mächtige Flitterstrahlen der Welt, selbst für schon recht tüchtig weise Männer. Für Weiber wollen wir kein Wort führen; denn da ist die Dummheit zumeist in ihrem Ursitz zu Hause.
[2.30.24] Es gleicht aber ein Mensch, der sich an solchem Weltflitterwerk gefällt, einem Reichen im Traum, der da mit Millionen hin und her wirft, wenn er aber erwacht, so drückt nicht ein einziger Groschen seine Börse. Ich meine, ihr werdet mich verstehen; und da unser Hindernis besiegt ist, so können wir schon wieder weiterziehen.
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