Hier ist Dein Kapitel

101. Gott über alles zu lieben bedingt mehr als die alleinige Haltung des Gesetzes

(Am 6. November 1843 von 3 3/4 – 6 Uhr abends.)

[2.101.1] Du hast in diesen vier Punkten gesehen, dass der Herr einesteils die alleinige Haltung des Gesetzes zur Erlangung des eigentlichen ewigen Lebens nicht als hinreichend darstellt und in dem vierten Punkt dasselbe sogar indirekt aufhebt.

[2.101.2] Was möchtest du aber sagen, so ich dir ein paar Punkte anführen möchte, wo der Herr sich über die Haltung des Gesetzes sogar tadelnd bezeigt? Du sagst hier: Das wird wohl nicht möglich sein! – Dafür kann ich dir sogleich nicht nur mit einem, sondern, so du es willst, mit mehreren Beispielen aufwarten. Höre!

[2.101.3] Jeder, der das Mosaische Gesetz in seinem Umfang nur einigermaßen durchblättert hat, dem muss es bekannt sein, wie sehr Moses die Gastfreundschaft dem jüdischen Volk anbefohlen hatte. Wer sich gegen die Gastfreundschaft versündigte, war vor Gott und vor den Menschen für strafwürdig erklärt, und das Gesetz der Gastfreundschaft ward dem jüdischen Volk, welches sehr zur Habsucht geneigt war, umso mehr eingeschärft, um dieses Volk dadurch fürs Erste vor der Eigenliebe und Habsucht zu verwahren und es zur Nächstenliebe zu leiten.

[2.101.4] Gesetz war es daher, einen fremden Gast, besonders wenn er der jüdischen Nation angehörte, mit aller Aufmerksamkeit zu empfangen und zu bedienen; und dieses Gesetz rührte her von Gott; denn Gott und [nicht] Moses war der Gesetzgeber.

[2.101.5] Als aber eben derselbe Herr, der einst durch Moses die Gesetze gegeben hatte, zu Bethania in das Haus des Lazarus kam, da war Martha gesetzesbeflissenst und bot alle ihre Kräfte auf, um diesen allerwürdigsten Gast ja gebührendst zu bedienen. Maria, ihre Schwester, vergisst vor lauter Freude über den erhabenen Gast des Gesetzes, setzt sich ganz untätig zu Seinen Füßen hin und hört mit der größten Aufmerksamkeit die mannigfaltigsten Erzählungen und Gleichnisse des Herrn an. Martha, über die völlige Untätigkeit ihrer Schwester und über die Gesetzesvergessenheit derselben bei dieser Gelegenheit ein wenig erregt, wendet sich selbst ganz eifrig zum Herrn und spricht: „Herr! ich habe so viel zu tun; heiße Du doch meiner Schwester, dass sie mir ein wenig überhelfe!“ – Oder noch deutscher gesprochen: Herr, Du Gründer des Mosaischen Gesetzes, erinnere doch meine Schwester an die Haltung desselben.

[2.101.6] Was spricht aber der Herr hier? „Martha, Martha!“ spricht Er, „du machst dir viel zu schaffen um Weltliches! Maria aber hat sich den besseren Teil erwählt, welcher von ihr ewig nimmer wird genommen werden.“

[2.101.7] Sage du mir, mein lieber Freund, nun, ob das nicht ein offenbarer Tadel gegen die gar emsige und genaue Haltung des Gesetzes vom Herrn aus ist, und im Gegenteil eine außerordentliche Belobung derjenigen Person, die sich gewisserart um das ganze Gesetz nicht kümmert, sondern nur durch ihre Handlungsweise also spricht:

[2.101.8] Herr, so ich nur Dich habe, da ist mir die ganze Welt um den schlechtesten Stater feil! – Zeigt hier der Herr nicht wieder, dass die alleinige Haltung des Gesetzes niemandem denjenigen besseren, ja besten Teil gibt, der von ihm ewig nimmer genommen wird? Siehe, das ist demnach ein fünfter Haken. Aber nur weiter!

[2.101.9] Was spricht der Herr Selbst beim Moses, und das im dritten Gebot: Du sollst den Sabbat heiligen!? – Frage, was tut aber der Herr Selbst im Angesichte Seiner buchstäblichen Erfüller des Gesetzes? Siehe, Er geht her und entheiligt Selbst den Sabbat, offenbar nach dem Buchstabensinn des Gesetzes, und erlaubt sogar Seinen Jüngern, an einem Sabbat die Ähren zu lesen und sich zu sättigen mit den Körnern. Wie gefällt dir diese Haltung des Gesetzes Moses, wo der Herr Selbst nicht nur allein für Sich, sondern zum sehr starken Ärgernis der buchstäblichen Gesetzeserfüller den ganzen Sabbat über den Haufen wirft? Du wirst sagen, das konnte der Herr ja wohl tun, denn Er ist auch ein Herr des Sabbats.

[2.101.10] Gut, aber ich frage: Wussten die sich ärgernden Pharisäer, dass des Zimmermanns Sohn ein Herr des Sabbats war? – Du meinst, sie hätten solches sollen an Seinen Wunderwerken erkennen. – Da aber sage ich dir: Bei diesem Volk waren Wunderwerke nicht hinreichend, um die vollkommene Göttlichkeit in Christo zu erkennen, denn Wunderwerke haben alle Propheten gewirkt zu allen Zeiten, die echten sowie auch mitunter die falschen. Also kann man das nicht voraussetzen, dass da die Wunder Christi die Pharisäer von Seiner Göttlichkeit und Herrlichkeit hätten überzeugen sollen.

[2.101.11] Alle Propheten aber bis auf Ihn haben den Sabbat geheiligt, Er allein warf ihn über den Haufen. Musste das nicht den Buchstabenerfüllern ein Ärgernis sein? Allerdings, und dennoch ließ der Herr nicht handeln mit Sich.

[2.101.12] Was geht aber aus dem hervor? Nichts anderes, als dass der Herr die Haltung des Gebotes allein für sich betrachtet ganz unten ansetzt. Warum denn? Ein kleines Gleichnis aus deiner eigenen Sphäre wie aus der Sphäre eines jeden Menschen, der je in der Welt gelebt hat, soll dir die Antwort bringen:

[2.101.13] Ein Vater hat zwei Kinder. Er hat diesen zwei Kindern seinen Willen wie gesetzlich bekanntgegeben. Einen Acker und Weingarten zeigte er ihnen und sprach: Ihr seid kräftig geworden, und so verlange ich von euch, dass ihr für mich nun den Weingarten und den Acker fleißig bearbeiten sollt. Aus euerem Fleiß werde ich erkennen, wer aus euch beiden mich am meisten liebt. – Nun, das ist das Gesetz, laut welchem natürlich demjenigen Sohn, der den Vater am meisten liebt, des Vaters Herrlichkeit zuteilwird.

[2.101.14] Was tun aber die beiden Söhne? Der eine nimmt den Spaten und sticht den ganzen Tag fleißig die Erde um und bestellt den Acker und den Weingarten. Der andere lässt sich bei der Arbeit mehr, wie man zu sagen pflegt, gut geschehen. Warum denn? Er spricht: Wenn ich auf dem Acker oder in dem Weingarten bin, da muss ich stets meinen lieben Vater entbehren; zugleich bin ich nicht so herrlichkeitssüchtig wie mein Bruder. Habe ich nur meinen lieben Vater, kann ich nur um Ihn sein, der meinem Herzen alles ist, da frage ich wenig um eine oder die andere Überkommung einer Herrlichkeit.

[2.101.15] Der Vater sagt diesem zweiten Sohn auch dann und wann: Aber siehe, wie dein Bruder fleißig arbeitet und sucht sich meine Liebe zu verdienen. – Der Sohn aber spricht: O lieber Vater! Wenn ich am Feld bin, da bin ich dir fern, und mein Herz lässt mich nicht ruhen, sondern spricht zu mir immer laut: Die Liebe wohnt nicht in der Hand, sondern im Herzen, daher will sie auch nicht mit der Hand, sondern mit dem Herzen verdient sein! Gib Du, Vater, meinem Bruder, der so emsig arbeitet, den Acker und den Weingarten. Ich aber bin hinreichend von dir aus beteilt, wenn du mir nur erlaubst, dass ich dich nach meiner Herzenslust allzeit lieben darf, wie ich dich lieben will und muss, weil du mein Vater, mein Alles bist!

[2.101.16] Was wird da wohl der Vater nun sagen, und das aus dem innersten Grund seines Herzens? Sicher nichts anderes als:

[2.101.17] Ja, du mein geliebtester Sohn, dein Herz hat dir das meinige enthüllt; das Gesetz ist nur eine Prüfung. Aber mein Sohn, die Liebe steckt im Gesetz nicht; denn jeder, der das Gesetz allein hält, hält dasselbe aus Eigenliebe, um sich dadurch mit seiner Tatkraft meine Liebe und meine Herrlichkeit zu verdienen. Der aber also das Gesetz hält, der ist noch fern von meiner Liebe, denn seine Liebe hängt nicht an mir, sondern am Lohn.

[2.101.18] Du aber hast dich umgekehrt, hast das Gesetz zwar nicht verschmäht, weil es dein Vater gegeben hat, aber du hast dich erhoben über das Gesetz, und deine Liebe führte dich über demselben zu deinem Vater zurück. Also soll denn auch dein Bruder den Acker und den Weingarten überkommen und in meine Herrlichkeit treten; du aber, mein geliebtester Sohn, sollst haben, was du gesucht hast, nämlich den Vater Selbst und alle seine Liebe!

[2.101.19] Ich meine, mein lieber Freund, aus diesem Gleichnis wird es etwa doch hübsch handgreiflich klar sein, was da mehr ist, die allein trockene Gesetzhaltung oder die Übergehung derselben und das Ergreifen der alleinigen Liebe.

[2.101.20] Sollte dir die Sache noch nicht völlig klar sein, da frage ich dich: So du wärst in der Gelegenheit, dir aus zwei Jungfrauen eine Braut zu suchen, von denen du überzeugt wärst, dass dich beide lieben, aber noch nicht völlig überzeugt, die welche aus ihnen am meisten – würdest du nicht sehr wünschen, zu erfahren, die welche dich am meisten liebt, um sonach auch die dich am meisten Liebende zu wählen? – Du sprichst: Das ist ganz klar; aber wie es anstellen, um das zu erfahren? – Das wollen wir sogleich haben.

[2.101.21] Siehe, zu der ersten kommst du hin. Sie ist emsig und tätig. Aus Liebe zu dir weiß sie sich aus lauter Arbeit nicht aus [noch ein], und das aus lauter Arbeit für dich, denn sie macht für dich Hemden, Strümpfe, Nachtleibchen und dergleichen noch mehrere Kleidungsstücke, und hat damit so vollauf zu tun, dass sie nicht selten aus lauter Arbeit kaum gewahr wird, wenn du zu ihr kommst. Siehe, das ist die erste. Die zweite arbeitet sehr lässig. Sie arbeitet zwar auch für dich, aber ihr Herz ist zu sehr mit dir beschäftigt, als dass sie ihre Aufmerksamkeit der Arbeit spenden könnte. Besuchst du sie, und erblickt sie dich von weitem zu ihr gehend, da ist von einer Arbeit gar keine Rede mehr; denn da kennt sie nichts Höheres, nichts Verdienstlicheres als dich allein! Du allein bist ihr alles in allem, für dich gibt sie alle Welt! Sage mir, die welche aus den beiden wirst du dir wählen?

[2.101.22] Du sprichst: Lieber Freund! Um eine ganze Trillion ist mir ja die zweite lieber, denn was liegt mir an den paar Hemden und Strümpfen? Offenbar ist ja hier ersichtlich, dass mich die erste ja nur zu verdienen sucht dadurch, dass sie von mir die Anerkennung ihres Verdienstes erzwingen will. Die andere aber sucht mich zu erlieben. Sie ist über alle Verdienstlichkeit hinaus und kennt nichts Höheres als mich und meine Liebe. Diese würde ich auch zu meinem Weib nehmen.

[2.101.23] Gut, sage ich dir, mein lieber Freund, siehst du hier nicht deutlich das Wesen der Martha und der Maria? Siehst du, was der Herr zu der gesetzesbeschäftigten Martha spricht und was zu der müßigen Maria?

[2.101.24] Aus dem aber kannst du auch ersehen, was der Herr über das Gesetz von jedem Menschen verlangt, und zugleich handgreiflich zu erkennen gibt, worin die Liebe des Menschen zu Gott besteht. Aus eben dem Grunde verflucht der Herr sogar, erregt in Seinem Herzen, die Buchstabenerfüller (die Pharisäer und Schriftgelehrten nämlich) des Gesetzes, lobt den sündigen Zöllner und macht den Dieben, Hurern und Ehebrechern das Himmelreich eher zugänglich als den trockenen Buchstabendreschern.

[2.101.25] Daher frage ich, der Einwender, nun mit vollstem Recht noch einmal, nach welchem Maßstab man Gott über alles lieben soll? Habe ich den Maßstab, dann habe ich alles, habe ich aber den Maßstab nicht, dann liebe ich wie einer, der nicht weiß, was die Liebe ist. Daher noch einmal die Frage:

[2.101.26] Wie soll man Gott über alles lieben? Und ich, Johannes, sage: Gott über alles lieben heißt:

[2.101.27] Gott über alles Gesetz hinaus lieben! Wie das, soll die Folge zeigen.

TAGS

Kein Kommentar bisher

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Letzte Kommentare