(Am 27. November 1843 von 4 3/4 – 6 1/4 Uhr abends.)
[2.114.1] Es braucht einen geringen Grad von physiologischer Kenntnis, um im Allgemeinen herauszufinden, dass im weiblichen Geschlecht die Herrschsucht der vorherrschendste Charakterzug ist; denn Herrschlust und Eitelkeit sind Zwillingsgeschwister und haben somit eine und dieselbe Stammwurzel. Wo aber ist das Weib, das nicht irgendeinen Grad von Eitelkeit besäße, sei es jetzt in ihrem Kleiderwesen oder in ihrer Zimmereinrichtung oder in noch so manchem anderen?
[2.114.2] Prüft den Zug dieser Eitelkeit und ihr werdet hinter ihm nichts finden als das lebendige Samenkörnchen des Hochmutes und hinterdrein der Herrschsucht.
[2.114.3] Man wird hier sagen: Nein, das heißt die Sache zu tief und zu grob angepackt! Im Gegenteil sollte man einen gewissen Grad von Eitelkeit bei dem weiblichen Geschlecht eher loben als also beinahe schonungslos an den Pranger des tiefsten Tadels stellen. Denn dieser gewisse Grad von Eitelkeit bei dem weiblichen Geschlecht ist sicher nur ein Kind der weiblichen Scham und des damit verbundenen Reinlichkeitssinnes, was aber doch offenbar nur eine lobenswerte Tugend und nie ein Fehler des weiblichen Geschlechts ist. – Gut, sage ich, es ist auf der Welt leider so weit gekommen, dass man das Gefühl der Scham für eine Tugend hält und mit der Ehre die Menschheit krönt, und das ist die beste Ernte für die Hölle; denn auf diesem Weg müssen die Menschen fallen, wo sie auf einem anderen höchstens fallen könnten.
[2.114.4] Man fragt: Wieso denn? – Ich aber frage: Wessen Anteil ist des Menschen irdische Ehre? Ist sie ein Anteil seiner Demut oder ein Anteil seines Hochmutes? Der Demütige strebt nach der untersten Stufe, da es keine Ehre und Auszeichnung mehr gibt, wie ingleichen der Herr mit dem großen Beispiel vorangegangen ist und Seine Ehre in die allerhöchste Demütigung und in das, was eigentlich die größte Weltschande ist, gesetzt hat.
[2.114.5] Eine ähnliche Ehre wurde allen Seinen ersten Nachfolgern zuteil. Ich aber frage: Was hat da das Schamgefühl zu tun, wo man zuerst verfolgt und verspottet und endlich nackt ans Kreuz geschlagen wird? Wie viel Ehre mag wohl der noch im Leibe haben, wie viel Schamgefühl, der auf den Galgen gezogen wird? Ich meine, bei dieser Gelegenheit dürften diese beiden so hochgeachteten Menschlichkeitsattribute so ziemlich in den Hintergrund gestellt sein.
[2.114.6] Wenn man aber schon etwas als eine Tugend aufführen will, so sollte man dasselbe doch wenigstens in einem oder dem anderen Punkt auf Christus als den Zentralpunkt aller Tugend zurückbeziehen können. Ich aber frage: Bei welcher Gelegenheit hat Er je die Scham und das Ehrgefühl als eine Tugend des Menschen angepriesen? Im Gegenteil untersagte Er es Seinen Jüngern und Aposteln, nach irgendeiner Ehre zu streben, indem Er zu ihnen sagte, dass sie sich nicht sollten grüßen und ehren lassen, gleichwie es die Pharisäer verlangten und gern sehen und haben, dass man sie auf den Gassen grüßt und Rabbi nennt. Das ist sicher jedem Christen bekannt, der nur einmal das Evangelium gelesen hat.
[2.114.7] Demzufolge aber kann ich durchaus nicht begreifen, aus welchem Grunde man das Schamgefühl und die damit verbundene Ehrsucht, welche bei dem weiblichen Geschlecht ganz besonders vorherrschend ist, als eine Tugend aufstellen kann.
[2.114.8] Man wird hier sagen: Man nehme dem weiblichen Geschlecht das Schamgefühl weg und man wird bald lauter Huren vor sich haben. – Oho, sage ich, geht es auf diesem Weg? Dann sage ich ganz bestimmt hinzu: Es gibt dann in dieser Hinsicht eben kein besseres Reizmittel für das weibliche Geschlecht, als das Schamgefühl; nichts als ein bisschen Gelegenheit dazu und ein jedes weibliche Wesen ist vermöge dieses Gefühls zum Betrieb der Unzucht völlig reif; denn nichts leichter ist über den Daumen gedreht als eben ein solches Gefühl, das nichts anderes als seine eigene Eitelkeit zum Grunde hat. Das bisschen Ehre, das dem Schamgefühl gegenübersteht, ist wohl eine so höchst schwache Stütze für die Tugend, dass man über sie auch nicht den allerleisesten Wind kommen lassen darf, um sie nicht augenblicklich zu verwehen.
[2.114.9] Aus dem aber geht doch klar hervor, dass es mit dieser Art der weiblichen Tugend einen gar außerordentlich verhängnisvollen Haken hat. Um aber dieses so in ein recht scharfes Licht zu stellen, will ich euch so ganz aus eurem Leben gegriffene Beispielchen vorführen.
[2.114.10] Ich setze den Fall, einer von euch gerät zufällig unglücklicherweise etwa an einem Morgen in ein weibliches Ankleidekabinett, in welchem soeben einige Jungfrauen noch so ziemlich in der Negligé versammelt sind. Ein Zetergeschrei wird sich erheben, und die Jungfern werden nach allen Winkeln und hinter alle Vorhänge die Flucht ergreifen, und das natürlich aus lauter Schamgefühl. Was aber habt ihr gesehen bei dieser Gelegenheit von all ihren weiblichen Reizen? Höchstens einen zerzausten Kopf, ein ungewaschenes, schläfriges Gesicht, einen höchstens über den Ellenbogen bloßen Arm und allenfalls noch etwa eine halbe Brust hinzu. Nun aber ziehen sich diese Jungfern an. Der Arm wird nicht selten bis unter die Achseln bloßgestellt, der Nacken und auch der Busen, soviel nur eine gewisse Dezenz gestattet, unbekleidet gelassen oder höchstens mit einem höchst durchsichtigen Spitzenzeug bedeckt, um damit die Reizbarkeit der nackten Teile zu erhöhen. So angezogen hat es mit dem Morgen-Schamgefühl ein Ende.
[2.114.11] Frage: Liegt hier das Schamgefühl in der Jungfrau oder im Negligékleid? Aber nur weiter! Dieselbe ganz verzweifelt schamhafte Jungfrau, die beim Morgenbesuch vor lauter Schamgefühl beinahe vom Schlag getroffen worden wäre, und die sich in dieser schamhaften Stunde um keinen Preis der Welt von einem Mann hätte anrühren lassen, – ich sage, eben diese superschamhafte Jungfrau wird abends in einem beinahe halbnackten Zustand auf einen Ball geführt und lässt sich nun von ihrem Tänzer ganz mordhaft angreifen und nicht selten kreuz und quer abdrücken. Frage: Wo hat dieser Kulminationspunkt alles Schamgefühls sein morgiges superjungfräuliches Schamgefühl versetzt? Sicher auch zu Hause im unvorteilhaften Negligégewand. Aber nur weiter!
[2.114.12] Dasselbe schamhafte Mädchen hat entweder auf dem Ball oder bei einer anderen Gelegenheit, etwa bei einer ganz ehrsamen Visite oder bei einem noch ehrbaren, ganz unschuldigen Spaziergang eine ihr zusagende jungmännliche Augenbekanntschaft gemacht, oder vielleicht auch etwas darüber. Für diesen Gegenstand wird so viel als möglich bei jeder Gelegenheit dem Schamgefühl Lebewohl gesagt. Gar bald wird unsere Schamhafte den Blicken ihres erwählten Gegenstandes ablauschen, wohin diese am meisten gerichtet werden, und unsere schamhafte Jungfrau wird sobald alle Sorgfalt darauf verwenden, um diejenigen Teile so vorteilhaft als möglich öffentlich zu präsentieren, von denen sie gemerkt hat, dass sie von ihrem gewählten Gegenstand am meisten beäugelt worden sind.
[2.114.13] Wenn ihr gewählter Gegenstand unsere schamhafte Jungfrau etwa in einer Gesellschaft treffen wird, in der sie sich gewisserart von der ehrbarsten Seite zeigen will, da wird er sich schon begnügen müssen, so sie ihm bei günstiger Gelegenheit ein paar verstohlene Blicke zuwirft, aber desto mehr wird sie bemüht sein, ihm ihre Königschaft in der Gesellschaft an den Tag zu legen. Wehe ihm, wenn er sich da vergäße und sich ihr zu viel nähern möchte! Denn so was könnte ihm beinahe das Genick brechen. Wenn es aber so eine rendezvousmäßige Zusammenkunft gibt, besonders an einem Ort, wohin die Strahlen der Sonne nicht direkt einfallen, auch die Schallwellen des Weltgetümmels sehr gebrochen oder gar nicht dahin gelangen, da wird das Schamhaftigkeitsgefühl völlig besiegt, und unsere am Morgen so schamhafte Jungfrau gibt sich ihrem geliebten Gegenstand, ich möchte sagen, von Angesicht zu Angesicht oder vom Kopfscheitel bis zur Ferse zur Beschauung preis; und was die, ich möchte sagen, beinahe allgemeine Betastung betrifft, so wird diese bei einer solchen Gelegenheit auch durchaus nicht als ein crimen laesae [Verstoß] gegen das jungfräuliche Schamgefühl betrachtet.
[2.114.14] Auf diese Weise geht dann dieses angepriesene Tugendgefühl völlig unter; und ich frage: Wo ist nun die Wirkung dieses so hoch gepriesenen Gefühles? Es ist verflogen und seine wahre Gestalt durch die Abnahme der Maske gezeigt. Und jeder Nüchterne kann es also erschauen, wie es nichts anderes als eine Schlange in der weiblichen Brust ist, oder der untersten Hölle erstes Samenkorn, von welchem hernach, wenn es sich entfaltet hat, alle möglichen weiblichen Laster wie aus einem Füllhorn hervorsprudeln. Wie aber dieses vor sich geht, wollen wir in der Folge so handgreiflich wie bis jetzt vor jedermanns Augen stellen.
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