(Am 21. April 1843 von 4 – 6 1/2 Uhr abends.)
[1.97.1] Seht, unser Prior geht, mit der höchsten Seligkeit erfüllt, hinaus zu seinen Brüdern, wie ihm der Herr geboten hat. Daher gehen auch wir ihm nach, um zu sehen, wie er sein Amt verwalten wird.
[1.97.2] Seht, es geht ihm auch schon unser bekannter redseliger Mönch entgegen und fragt ihn mit ganz erschrockener Miene: Höre, Bruder, wie ist es möglich, dass du in dieser schauderhaftesten Epoche, in welcher wir alle samt dir den unerbittlichen Richter erwarten, mit einem solchen überheiteren Angesicht aus deinem guten Versteck zu uns kommen kannst? Hat solches dein schlichter Führer bei dir bewirkt, oder hast du dich selbst also überredet? Sage mir und uns allen, wie du zu dieser Fröhlichkeit gelangt bist? Dem Herrn sei alles Lob, alle Ehre und aller Dank, dass Er dir solche Fröhlichkeit zugelassen hat. Aber wir armen Sünder hier stehen dafür eine desto größere Angst und Bangigkeit aus. Wenn doch auch uns ein wenig geholfen werden könnte, so wäre das wirklich etwas außerordentlich Ersprießliches für unser überaus geängstigtes Gemüt.
[1.97.3] Fürwahr, gar oft habe ich auf der Erde von der Kanzel dem Volk gepredigt, wie schrecklich es ist, vor dem Angesicht des unerbittlichen Richters zu erscheinen, und wie schrecklich, in die Hände des lebendigen, allmächtigen Gottes zu fallen! Es mögen auch gar viele meiner Zuhörer auf solche meine Predigten bis ins Innerste erschüttert worden sein; aber ich habe dabei ganz bestimmt am allerwenigsten solch meine Predigt beherzigt und ließ mir, wie ihr wisst, darauf einen guten Bissen wie auch ein gutes Glas Wein recht wohl schmecken. Hier aber kommt es genau auf das Sprichwort an: Wer einem anderen die Grube gräbt, fällt am Ende selbst hinein. Und so denn stecke ich auch über Hals und Kopf in dieser Grube und empfinde nun das allerstärkst lebendig, was ich bei meinen Lebzeiten den anderen habe wollen empfinden machen durch meine Predigten. Daher bitte ich dich nun auch umso mehr, dass du mir und uns allen eine kleine tröstende Mitteilung machen möchtest, wie es dir möglich ist, in dieser Lage, in der wir uns befinden, so heiter zu sein?
[1.97.4] Der Prior spricht: So höre denn, mein geliebtester Bruder: Meine ehemalige und deine jetzige Furcht vor dem Herrn hat darin ihren Grund, dass wir den Herrn nie so haben wollten, wie Er ist; sondern wir machten Ihn Selbst zu dem schrecklichsten Wesen aller Wesen. Wir haben somit den wahren Christus verloren, das heißt denjenigen Christus, verstehe Bruder, der noch am Kreuz blutend und sterbend Seine größten Feinde, Peiniger und Marterer segnete und sie Selbst mit ihrer eigenen Unwissenheit entschuldigte; ja, den Christus, der den Missetäter, welcher sich zu Ihm gewendet hatte, plötzlich mit dem offensten Herzen aufnahm und selbst denjenigen, der Ihn am Kreuz schmähte, nicht verdammt hat, – und haben uns statt dieses wahren Christus einen Tyrannen-Christus gebildet, der fortwährend Rache brütet bis zum bestimmten, das heißt von uns bestimmten irrwahnigen Vergeltungstag, während wir doch gar leicht hätten bedenken können, dass der Herr, so Er an Seinen armseligen Geschöpfen hätte Rache nehmen wollen, nicht einer so langen, unbestimmten Frist benötigen würde, sondern hätte es mit ihnen machen können, wie Er es mit Sodom und Gomorra gemacht hat.
[1.97.5] Ferner stellten wir uns Christus immerwährend in solch unzugänglicher Erhabenheit vor, von welcher aus Er Sich Seiner Geschöpfe gewisserart gar wenig kümmere, sondern sie frei belasse bis zum Gerichtstag, da sie Sein Wort und Sein Gesetz haben; gedachten dabei aber ganz entsetzlich wenig, was der gute Hirt spricht. Und die Verheißung: „Ich bleibe bei euch bis ans Ende aller Zeiten“, ging ebenfalls stumm an unseren Herzen vorüber. Und wir begnügten uns anstatt der lebendigen Gegenwart Christi allein mit der toten zeremoniellen, durch welche wir den wahren Christus nur stets mehr und mehr einbüßten.
[1.97.6] Wir versetzten alles in die Materie, wir dünkten uns am Ende sogar tagtägliche Schöpfer Christi zu sein und sündigten auf diese himmelschreiende Machtinhabung auf die göttliche Liebe und Erbarmung drauflos, dass es eine barste Gräuelschande war! Da uns der liebevolle Christus zeitlichermaßen nicht so viel eingetragen hätte wie der allergestrengst gerechteste und unerbittlichste, so schoben wir auch alles Seiner allergestrengsten Gerechtigkeit anstatt, als schwache Wesen, Seiner ewigen Liebe und Erbarmung unter. Und wie wir Ihn also zeitlich erträglich und wohlzinspflichtig machten, also ist Er auch bis auf den gegenwärtigen Zeitpunkt für unser Gemüt geblieben.
[1.97.7] Meint ihr aber, der wahre Christus habe Sich darum wirklich verändert und so gestaltet, wie wir Ihn törichterweise in uns gestaltet haben? O nein, meine lieben Brüder! Er ist, wie Er allzeit und ewig war, noch bis auf diese gegenwärtige Minute ganz derselbe übergute heilige Vater geblieben und wird auch fürder ewiglich also verbleiben.
[1.97.8] Er ist noch derselbige unendlich liebevolle Freund, der zu allen spricht: „Kommt her zu Mir, die ihr mühselig und schwer beladen seid, Ich will euch alle erquicken!“ Er ist noch derselbe Christus, der da am Kreuz in Sich Selbst Seine Peiniger entschuldigte und ihnen alles in der Fülle Seiner göttlichen Liebe vergab.
[1.97.9] O Freunde und Brüder! Ich möchte wohl sagen: Wenn je ein Erdenbürger eine große und schwere Sünde begehen kann, so ist wohl nicht leichtlich eine größere denn diese, so jemand aus schändlichem irdischem Eigennutz die unaussprechliche Güte und Liebe des Herrn also verkennt, wie wir sie verkannt haben!
[1.97.10] Seht hin und betrachtet die Geschichte des verlorenen Sohnes. Was tat wohl dieser Erhebliches, dass er sich aussöhnen konnte mit seinem tiefgekränkten Vater? Nichts, als dass er sich, durch die höchste, schauderhafteste Not getrieben und genötigt, wieder nach Hause zu seinem Vater kehrte, um dort allenfalls der letzte Knecht zu sein. Was tat aber der Vater? Er ging diesem zurückkehrenden Sohn schon auf dem halben Weg entgegen. Und wie dieser, zu ihm kommend, niederfiel und ihm sein notgedrungenes Begehren vortrug, hob ihn der Vater sobald auf, drückte ihn an seine heilige Brust, ließ ihm sogleich die herrlichsten Kleider anziehen und bestellte dazu noch ein großes Freudenmahl.
[1.97.11] Sagt mir, liebe Brüder, haben wir Christus je von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet? Wir haben wohl auch den verlorenen Sohn gepredigt, aber wie? Der verlorene Sohn musste sich umkehren durch unsere Beichte, dann durch allerlei auferlegte Bußwerke, welche nicht selten ärger waren, als das Schweinefutter des verlorenen Sohnes in der Fremde. Hatte sich ein solcher verlorener Sohn auch wirklich umgekehrt, so fand er aber dennoch, anstatt des alleinig wahren, guten Vaters, nichts als uns, die wir ihn zur vermeintlichen Rückkehr bewogen haben und bedachten dabei nicht, wer der Vater ist, und nicht wo Er ist und wohin sich der verlorene Sohn hätte wenden sollen!
[1.97.12] So haben wir getan. Aber nichtsdestoweniger hat Sich der gute heilige Vater verändert. Ihr seid samt mir nichts als solche verlorene Söhne, die schon gar frühzeitig das vom Vater erlangte Gut auf der Erde vergeudet haben und verhurt. Wir haben bis jetzt unsere Armut außer dem väterlichen Haus schon eine geraume Zeit gar bitter empfunden. Kehren wir daher zurück und werfen uns Ihm zu Füßen. Nicht dass Er uns etwa solle ein köstliches Mahl bereiten und uns aufnehmen zu großen Ehren, sondern dass wir nur die Allerletzten sein dürften in Seinem Vaterhaus und dürften Ihn da lieben aus allen unseren lebendigen Kräften!
[1.97.13] Der Mönch spricht: O Bruder! Was für Worte hast du nun geredet, und welch einen himmlischen Balsam hast du dadurch in unsere Herzen gegossen! Ja, du hast die ewige Wahrheit gesprochen. Den wir mit der größten Freude und mit der größten Liebe unseres Herzens erwarten sollten, den überguten heiligen Vater, konnten wir so fürchten! Ja, mein lieber Bruder, ich kann dir nun versichern, dass du mir auch alle Furcht vor dem Herrn so sehr benommen hast, dass ich mich nicht vor dem allerstrengsten Gericht mehr fürchten möchte. Denn ich weiß nur das, dass ich Ihn, den so unendlich allerliebevollsten Christus, lieben darf und kann. Weil Er in Sich Selbst so unendlich gut und liebevollst ist, so fühle ich mich überall glücklich sein zu können, wo ich Ihn, den Liebevollsten, immer lieben kann.
[1.97.14] Ich danke dir, lieber Bruder, auch im Namen aller dieser unserer Brüder, dass du uns solche herrliche Kunde überbracht hast, welche dir sicher jener liebe schlichte Mann eingegossen hat, und gebe dir dazu auch die allervollste Versicherung, dass ich und wir alle den wahren Christus ewig zu lieben, ja über alles zu lieben nie aufhören werden, weil Er in Sich und aus Sich so unendlich gut und liebevoll ist! Ja, wer Ihn also nicht lieben könnte, der müsste, fürwahr, ärger als der ärgste höllische Teufel sein. Wie ich mich ehedem gefürchtet habe, einmal vor Seinem Angesicht zu erscheinen, so soll das aber von nun an ewig mein heißester Wunsch sein, in meiner großen Unwürdigkeit den allerheiligsten Vater nur einmal wesenhaft zu Gesicht zu bekommen!
[1.97.15] O Du mein Christus, Du! Wie sehr liebe ich Dich jetzt, da ich Dich besser denn auf der Erde erkannt habe! Sei mir armem Sünder aber nur insoweit gnädig und barmherzig und nehme mir diese meine Seligkeit nicht, die darin besteht, dass ich Dich lieben kann aus allen meinen Kräften allorts, wohin Deine Erbarmung und Dein heiliger Wille mich nur immer bescheiden werden. O Herr! Ich verlange ewig nichts von Dir, denn ich bin ja nicht der allergeringsten Gnade wert. Nur lieben lass Dich von mir, und wenn es möglich ist, so lass mich in solcher Liebe zu Dir völlig vergehen!
[1.97.16] Der Prior spricht: Mein lieber Bruder, sage mir, nachdem du dich in deinem Gemüt also geändert hast, wie dir mein schlichter Mann, der soeben auch hinter dem Laubwerk hervorkommt, gefällt?
[1.97.17] Der Mönch spricht: O liebster Bruder, dieser Mann gefällt mir schon seit seiner ersten Erscheinung gar überaus gut. Dem könnte ich folgen, wohin er nur immer wollte, und würde er mich stellen da oder dorthin auf die Anwartschaft des Herrn, so könnte ich mich wie ein Felsen auf einem Punkt eine halbe Ewigkeit lang festhalten, ohne meinen Platz nur um ein Haar zu verrücken. Das wäre überhaupt so ein Mann, dem ich um den Hals fallen könnte und meine ganze Liebe über ihn schütten. – Der Prior spricht: Was würdest denn du dann tun, lieber Bruder, wenn sich dir der Herr aller Himmel und aller Welten in solcher Schlichtheit nähern würde?
[1.97.18] Der Mönch spricht: O Bruder, um solch ein Gefühl auszudrücken, da bin ich der Meinung, möchten wohl jedem noch so erhabenen, höchsten himmlischen Geist die Worte in der Brust steckenbleiben! Denn zu unerträglich groß wäre das, wenn auch nur eine augenblickliche Seligkeit!
[1.97.19] Der Prior spricht: Bespreche dich darüber mit dem schlichten Mann selbst, der soeben Sich uns naht. Dieser wird dir da den besten Aufschluss zu geben imstande sein, wo mich, glaube es mir, Bruder, bereits auch alle Sprache im Stich lässt. Ich sage dir: Gehe du, und geht ihr alle diesem schlichten Mann entgegen. Der wird euch wie mir den wahren Weg zum Vater und auch den Vater Selbst zeigen! Mehr vermag ich dir nicht zu sagen.
[1.97.20] Nun öffnet aber der schlichte Mann Seine Arme und spricht: Kindlein! Kommt her in die Arme eures guten Vaters, denn Ich bin Der, den ihr so sehr gefürchtet habt!
[1.97.21] Ein allgemeiner Schrei geschieht von allen, und alle fallen vor Ihm nieder und weinen vor zu großer Liebe zu Ihm! Und alles, was man von ihnen vernimmt, ist: O du guter heiliger Vater! So unendlich gut bist Du?! O dass wir Dich doch zu lieben vermöchten nur im geringsten Maße, wie Du aller Liebe würdig bist!
[1.97.22] Und seht, der Herr beugt Sich zu ihnen nieder, richtet sie alle auf und spricht zu ihnen: Kindlein, hört nun und vernehmt Mein strenges, richterliches Urteil, welches also lautet: Folgt Mir! Denn Ich, euer alleinig wahrer, guter Vater, will euch Selbst führen an den ersprießlichen Ort eurer stets wachsenden Bestimmung in Meinem Reich! Aber nicht hier auf diesem Platz, da noch so manches von eurem Sinnentrug erschaulich ist, sondern auf einem lebendig reinen Platz erst will Ich euch zeigen, was ihr ferner tun sollt, und wie ihr Mich sollt vollkommen im Geiste und in der Wahrheit lieben und also in solcher Liebe als den alleinig ewig wahren Gott anbeten! Und so denn verlasst hier alles und folgt Mir!
[1.97.23] Seht nun, wie der liebe Vater wieder ein Schöcklein [Häuflein] verlorener Kinder heimführt und wie sie Ihm, Seinen heiligen Namen lobpreisend, folgen! Folgen aber auch wir ihnen, damit wir auch da die völlige Löse erschauen mögen.
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