(Am 12. April 1843 von 4 3/4 – 6 3/4 Uhr abends.)
[1.94.1] Seht, soeben naht sich aber auch der frühere Redner wieder zu mir und fragt mich, nachdem er einen fremden Mann neben dem Prior erblickt, wer dieser Mann ist und was es mit ihm für eine Bewandtnis hat. Ihr würdet diese Frage wohl auf den ersten Anblick eben von nicht so sehr großer Bedeutung seiend ansehen, aber wenn ihr bedenkt, um was es sich hier handelt, nämlich um die Wahrheit, so wird euch die Frage sicher inhaltsschwerer vorkommen, als sie bei ihrem ersten Lautwerden erscheint. Sollte man nun sogleich dem Fragesteller die Wahrheit ins Gesicht binden? Sollte man ihm eine ausflüchtige Antwort geben? Sollte man ihm gar keine Antwort oder nur eine halbe geben? Oder sollte man ihn auf die Wartebank hinweisen und ihm die Antwort auf die Löse bescheiden? Seht, das sind lauter sehr achtbare Punkte, von welchen die Frage dieses Mönches umstellt ist.
[1.94.2] Wir wollen aber sehen, wie sich der Fragesteller wird abfertigen lassen; und so spreche ich denn zu ihm: Höre, lieber Freund und Bruder, es ist hier nicht der Ort, dir zu sagen, ob du mit dieser deiner Frage zu früh oder zu spät ans Licht getreten bist. Die Frage selbst ist billig von dir gestellt, aber es wäre der göttlichen Ordnung zufolge unbillig von mir, dir eher darüber eine Antwort zu geben, als bis du deinem Innern nach fähig wirst, eine solche Antwort zu ertragen.
[1.94.3] Denn siehe, gewisse Antworten hier im Reich der Geister sind von einer solchen Beschaffenheit, dass sie dem Fragesteller das geistige Leben kosten würden, wenn sie vor der Zeit an ihn gelangen möchten. Daher kann ich dir für diesmal auf deine Frage auch nichts anderes sagen als: Gedulde dich in aller Demut und Liebe zum Herrn, und du wirst zur rechten Zeit den rechten Aufschluss über den Fremden erhalten. Doch nun nichts mehr weiter davon; denn wie du siehst, die ganze Gesellschaft unter der Anführung dieses Fremden und des Priors ist uns nahe und ist schon so gut wie vollends hier.
[1.94.4] Der Mönch bemerkt: Ja, lieber hoher Freund und Bruder! Dein Bescheid ist völlig leuchtend klug für dich, aber was mich betrifft, da muss ich mich freilich wohl mit meiner eigenen Dunkelheit begnügen. Aber dessen ungeachtet hast du mir wider mein Erwarten viel gesagt; denn ich habe – wie ich dir schon einmal, wenn schon etwas verhüllt, bemerkte, dass ich in der Beurteilung so mancher Dinge ziemlich scharfen Geistes war – aus deiner Antwort gar tüchtig herausgefunden, dass hinter dem Fremden etwas ganz Besonderes stecken müsse. Denn wäre solches nicht der Fall, da hätte ich wirklich keinen Grund in dir zu suchen, demzufolge du mir eine ausweichende Antwort geben müsstest. Wäre dieser Fremde, dir gleich, nur bloß ein Bote aus den Himmeln, so würde mir seine Bekanntschaft wohl sicher ebenso wenig lebensgefährlich sein als die deinige. Er muss darum sicher um sehr Bedeutendes mehr sein und höher stehen denn du, weil du ihm schon ein solches Zeugnis gibst.
[1.94.5] Zudem merke ich auch bei der Annäherung dieses Fremden einen sonderbaren, bis jetzt noch nie empfundenen Zug in mir, und dieser Zug sagt mir, wie in einer leisen Ahnung, dieser Fremde ist dem Herrn überaus nahe, und keiner dürfte dem Herrn näher denn dieser sein. Habe ich recht oder nicht?
[1.94.6] Ich spreche zu ihm: Lieber Freund und Bruder! Ich kann dir hier nichts anderes sagen als: Sei demütig und halte dich ausschließend an die Liebe des Herrn, so wirst du nicht verloren gehen. Sei nicht vorlaut! Denn es braucht jede gute Sache ihre Zeit. Wer zu früh die Früchte vom Baum des Lebens und noch früher die vom Baum der Erkenntnis pflückt, der schadet sich zweifach. Fürs Erste bekommt er eine unreife Frucht, an welcher er sich nicht sättigen, wohl aber in seiner Gesundheit nur benachteiligen kann, und fürs Zweite verdirbt er dadurch auch den Baum, da er ihm durch die zu frühe Beraubung der Früchte die Gelegenheit nahm, den segenvollen Vorrat seiner Säfte in Früchte niederzulegen und dadurch selbst für eine nächste Befruchtung sich tauglich zu erhalten. Solches wirst du auch einsehen, indem du meines Wissens auf der Erde ein guter Baumgärtner warst.
[1.94.7] Der Mönch spricht: Ja, solches sehe ich jetzt recht gut ein, daher will ich nun auch still sein wie eine Maus, wenn sie die Katze wittert.
[1.94.8] Nun seht, unseren Mönch hätten wir beruhigt, und das ist gut. Ihr möchtet aber vielleicht glauben, dieser Mönch sei der einzige Pfiffikus dieser Gesellschaft. Oh, dergleichen gibt es noch mehrere. Das ist aber auch noch ein Überbleibsel der priesterlichen Weltheit, welche nicht selten solchen römisch-katholischen Priestern eigen ist, und ganz besonders so manchen Klostersekten. Aber diese Weltheit muss auch noch hinaus, denn hierzulande kann man dieses alles nicht brauchen; denn die Liebe muss ganz rein sein. Eine Liebe aber, an der noch ein gewisser Grad von Schlauheit haftet, ist nicht rein. Denn solches könnt ihr schon auf der Welt erschauen.
[1.94.9] Nehmt ihr z. B. an, irgendein sonst wohlgesittetes und guterzogenes Mädchen wird von einem sie sehr interessierenden schätzbaren jungen Mann geliebt. Sie aber, um vollends seiner Liebe sich versichert zu wissen, wendet allerlei schlau ausgedachte Auskundschaftsmittel an, durch welche sie sich heimlich überzeugen will, wie es so ganz eigentlich mit der Innigkeit der Liebe ihres Geliebten stehe. Wenn ihr dieses Beispiel so natürlich weg betrachtet, so werdet ihr sagen: Das Mädchen handelt redlich, denn ihre Handlung ist doch der sicherste Beweis, dass sie ihren jungen Mann überaus stark liebt und ihr somit überaus viel an ihm gelegen ist.
[1.94.10] Gut, sage ich; wir wollen diese Liebe ein wenig näher prüfen und daraus ersehen, ob sie wirklich probhaltig [probefest] ist. Nehmen wir an, der junge Mann erfährt die Schlauheit seiner Gewählten und denkt bei sich: Wie ist denn deine Liebe beschaffen, dass du über mich heimliche Kundschafter aufstellst? Ich habe solches noch nie getan, denn ich vertraute völlig deinem Herzen. Aus welchem Grunde solltest du mich denn für treubrüchiger halten als ich dich? Warte ein wenig, ich will deiner Liebe auf den Zahn fühlen und machen, als hätte ich noch mit einer anderen ein Wesen; und es wird sich da gleich zeigen, wie deine Liebe beschaffen ist. Liebst du mich wie ich dich, so wirst du dich nicht stoßen an mir; liebst du mich aber nicht so rein, wie ich dich liebe, so wirst du dich dann von mir abwenden und dein Herz statt mit Liebe nur mit Zorn gegen mich erfüllen.
[1.94.11] Nun seht, dieser Mann tut desgleichen, und was lässt sich wohl leichter denken, als dass die schlaue Geliebte solches bald erfährt. Was ist aber nun der Erfolg? Hören wir sie ein wenig an; denn wovon das Herz voll ist, davon geht auch der Mund über. Und ihre Worte möchten wohl also lauten: Da haben wir’s! Oh, ich habe eine sehr gescheite Nase, es ist, wie ich mir’s gedacht habe. Dieser Betrüger meines Herzens, dieser ehrlose Mensch hat mich für eine dumme Gans gehalten und glaubte, mit einem so armseligen Wesen wird er wohl gar leicht fertig werden. Aber das arme Wesen ist nicht so dumm, als sich der betrügliche, ehrlose Mensch denkt, sondern es ist um eine ganze Million gescheiter und hat auf diese Weise das ganze schändliche Wesen des klug und gerecht sein wollenden Mannes herausgebracht. Nun aber komme, du untreues, ehrloses Bild eines Mannes, mir nur; ich will dir eine Gegenliebe zeigen, an welche du gar lange gedenken sollst.
[1.94.12] Seht, wozu war der ihre Schlauheit gut? Ich sage, zu nichts, als dass sie sich in der ehemaligen Achtung ihres Bewerbers um sehr vieles herabgesetzt hat. Was wird wohl geschehen, wenn der junge Mann wieder zu ihr kommt? Hört selbst zu; er soll soeben zu ihr kommen, und der Empfang von ihrer Seite soll auch sogleich folgen. Er kommt soeben zu ihr und geht ihr mit der alleraufrichtigsten Liebe entgegen; wie aber geht sie ihm entgegen? Seht an die große Kälte und daneben gleich wieder einen ganzen großen Kalkofen voll glutbrennender Eifersucht. Er erstaunt sich ganz außerordentlich über dieses ihr Benehmen und spricht zu ihr: Höre, dieses dein Benehmen befremdet mich ungemein; worin liegt wohl der Grund davon? Sie spricht: Eine ehrsame Jungfrau ist einem im höchsten Grade unehrsamen Mann keine Antwort pflichtig und kann ihm nichts anderes sagen, als dass es von seiner Seite umso infamer ist, dass er als ein Liebetrüger und falscher Herzenbeschleicher es noch wage, sich zu begeben dahin, da für ihn kein Ort mehr ist; dahin, da er zufolge seines allertreulosesten Betragens gänzlich unwürdig sich zu nahen gewagt hat.
[1.94.13] Er spricht: Was lauter muss ich hören? War deine Liebe zu mir auf solchem Fuße? War sie Misstrauen statt Liebe? Wahrlich, hättest du mich je vollkommen aufrichtig geliebt, so wie ich dich geliebt habe, da hättest du mir wie ich dir getraut und hättest keine geheimen Kundschafter über mich aufgestellt, da ich keine über dich aufgestellt habe. Ich aber habe solches erfahren und darum deine Liebe zu mir auf eine Probe gestellt. Und siehe, deine Liebe hat die Probe nicht bestanden. Du hast mich nie geliebt, sondern wolltest eigenliebig nur allein von mir geliebt sein, nur dein Bild wolltest du in mir verehren, während mein Bild in dir ein Gegenstand deiner Missachtung war. Siehe, mit solcher Liebe kann mir wahrlich ewig nie gedient sein! Ich aber gebe dir nun eine Frist; erforsche in dieser dein Herz, ob du lieben kannst, wie ich dich geliebt habe und noch liebe. Kannst du solches, so will ich dich nicht aus meinem Herzen bannen, sondern dich behalten gleich wie ehedem. Kannst du aber solches nicht, so sollst du mir aber auch nach der abgelaufenen Frist zum letzten Mal Angesichts stehen.
[1.94.14] Was wird nach dieser sehr bedeutungsvollen Anrede unsere Jungfrau tun? Hier sind zwei Wege offen. Ist ihr beleidigter Hochmut durch die Weisheit des Mannes besiegt und die Jungfrau erkennt ihre Schuld, so wird die Sache gut ablaufen, wächst aber der beleidigte Hochmut, so wird die Sache auch sicher eine schlimme Wendung nehmen, welche bei ähnlichen Fällen allzeit häufiger ist als die gute. Weil das mit eben nicht zu viel Liebe erfüllte weibliche Herz sich nun durch die Weisheit des Mannes geschlagen fühlt, so fängt es gewöhnlich fürs Erste an, seinen Wert immer höher und höher anzuschlagen und fürs Zweite anstatt auf Versöhnung nur auf eine tüchtigere Rache zu sinnen. Ich meine, dieses Beispiel wird euch hinreichend überzeugen, dass eine gewisse Schlauheit durchaus kein Teil der wahren reinen Liebe sein kann.
[1.94.15] Ihr sagt hier zwar und fragt, wie denn aber hernach solches zu verstehen sei, da der Herr zu Seinen Aposteln und Jüngern, denen Er das alleinige Gebot der Liebe gab, aber dennoch hinzu sagte: „Seid klug oder schlau wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben?“
[1.94.16] O meine lieben Freunde und Brüder, diese Klug- oder Schlauheit ist eine ganz andere und hat darin ihren Fuß, dass der Mensch sich von keiner Versuchung solle blenden lassen, als hätte ihn die Liebe und Gnade des Herrn verlassen, sondern er soll sich über alles dieses aus dem innersten Grunde seines Herzens hinwegsetzen und lebendig in sich selbst sagen: O Herr! Lass Du hier über mich kommen, was Dein heiliger Wille nur immer für gut findet; und möge mir dieses alles noch so sonderbar und widersprechend vorkommen, so aber weiß ich dennoch, dass Du über alles das mein allerliebevollster und allerbester Vater bist, und ich will Dich nur umso mehr lieben, je mehr Du Dich vor mir versteckst. Denn ich weiß, dass Du mir allzeit nur um desto näher bist, je entfernter Du mir zu sein scheinst. Darum auch will ich Dich lieben stets mehr und mehr aus allen meinen Lebenskräften!
[1.94.17] Seht, in diesem Beispiel ist die besprochene Klugheit und Einfalt der Liebe in einem beisammen; aber dieses geht unseren Schlauen und Scharfsinnigen noch sehr stark ab und wird im Verfolge unserer Unterhandlung noch ganz besonders müssen herausgehoben werden.
Kein Kommentar bisher