(Am 7. April 1843 von 5 3/4 – 6 3/4 Uhr abends.)
[1.90.1] Seht, der schlichte Mann geht auf unseren Prior zu. Dieser entdeckt Ihn auch soeben und geht, wie ihr seht, Ihm entgegen und richtet auch alsbald die Frage an Ihn: Lieber Freund und Bruder! Sei mir tausendmal gegrüßt und willkommen! Du bist mir zwar noch wie ein Fremdling, und ich kann mich nicht entsinnen, dich je unter meiner Gesellschaft gesehen zu haben. Aber ich bin ein guter Menschenkenner schon auf der Erde gewesen und habe davon auch einen freilich wohl nur sehr geringen Teil mit herübergenommen, das heißt freilich wohl nur durch die allerhöchst unverdiente Gnade und Erbarmung des Herrn, daher aber erkenne ich dennoch, dass du ein Mann von sehr edler Gesinnungsart sein musst. Und so will ich dir auch sogleich mein Bedürfnis kundgeben.
[1.90.2] Siehe, wir waren alle priesterlichen Standes auf der Erde. Wie es aber auf der Welt schon zugeht, so waren wir im Angesicht des Herrn sicher alles eher als Priester. Wir taten zwar maschinenmäßig unsere vorgeschriebenen, gottesdienstlich sein sollenden Zeremonien; wie viel aber im Ernst Gottesdienstliches daran war, davon sind wir durch einen Boten vom Herrn aus soeben auf das Sonnenklarste überwiesen worden. Kurz und gut, wir waren bis jetzt, und sind es im allergrößten Teil noch, von uns selbst gefangene Irrtümlinge, die sich in allem möglichen Falschen begründet haben, und desselben aus uns selbst nie wären losgeworden, so sich des Herrn unendliche Liebe nicht unserer grenzenlosen Armut erbarmt hätte.
[1.90.3] Über diese Kluft siehst du noch den gefährlichsten Teil meiner Brüderschaft. Der Bote des Herrn hat mich zu eben dem Behuf hierher abgesandt, diese armen Brüder aus dieser Gefangenschaft hinauszuführen. Ich tat bereits schon alles Mögliche, um mit ihnen diesen segensreichen Zweck zu erreichen, allein noch immer will sich über die Kluft kein Übergang zeigen. Ich weiß aber, was mir der Bote des Herrn aufgetragen hat und bin auch in meinem innersten Gefühl vollkommen überzeugt, dass ich diesen armen Brüdern von ganzem Herzen gern helfen möchte, wenn es mir anders nur möglich wäre.
[1.90.4] Der Bote des Herrn hat mich freilich bei diesem Geschäft auf die alleinige Hilfe des Herrn verwiesen. O lieber Freund und Bruder, ich bin wohl bis in meine innerste Lebensfiber überzeugt, dass der Herr diesen Brüdern wie auch mir wie niemand mehr in der ganzen Unendlichkeit helfen kann; aber solches weiß ich auch, dass ich solch einer Hilfe von Seiten des Herrn zu sehr allerunwürdigst bin. Wenn du daher zur Rettung dieser Armen mir auch etwas behilflich sein möchtest und könntest, da bin ich überzeugt, dass du gewiss ein gutes Werk an den allerdürftigsten Brüdern getan hast. Und ist es uns gelungen, im Namen des Herrn die Armen über die schauerliche Kluft zu bringen, so will ich mich samt dir vor dem Herrn zum ersten Mal im Geiste und in voller Wahrheit in den Staub meiner Nichtigkeit hinwerfen und sagen:
[1.90.5] O Herr, du allergnädigster und bester Vater! Ich danke Dir für diese unermessliche Gnade, die Du mir dadurch erwiesen hast, dass ich nun einsehe und aus dem Grunde meines Herzens sagen kann: O Herr! Ich habe nichts sondern nur Du hast alles getan; ich aber bin Dein allerschlechtester und nutzlosester Knecht.
[1.90.6] Der schlichte Mann spricht: Nun gut, Mein lieber Freund und Bruder, ich habe dich aus dem Grunde verstanden; was sollen wir aber hier machen? Sollten wir etwa Balken oder Läden darüberlegen?
[1.90.7] Der Prior spricht: O lieber Freund und Bruder, einen solchen Versuch habe ich schon gemacht, aber das grimmige Feuer da unten zerstört sobald alles, was man darüberlegt. Denn sieh nur hinab, es ist ja gerade zum Verzweifeln schauderhaft anzusehen, welche ungeheure Glut- und Flammenmasse da unten wütet. Ich meinesteils getraue mich gar nicht mehr in die Nähe.
[1.90.8] Der schlichte Mann spricht: Nun gut, Mein lieber Freund und Bruder, so will denn Ich hinzugehen und sehen, wie es da mit dem Feuer steht. Siehe, Ich bin bei der Kluft, und Ich muss dir offen gestehen, bis auf einige Fünklein sehe Ich im Ernst nichts Feuriges mehr.
[1.90.9] Hier geht der Prior auch hinzu und überzeugt sich davon. Als er aber in die Kluft hinabblickt, da hebt er seine Hände hoch empor und schreit zu den anderen Brüdern hinüber: O Brüder, tretet näher dieser Kluft und überzeugt euch selbst, wie unendlich gnädig und barmherzig der Herr ist! Nur kaum einige Fünklein mehr sind in der Tiefe. Werft euch nieder, dankt es dem alleinigen Herrn! Er allein hat diese schauerliche Glut erstickt. Erstickt aber auch ihr mit den Tränen eurer Reue und eures größtmöglichen Dankes gegen Ihn, den heiligen, allmächtigen Helfer aus jeder Not, diese Fünklein und seid vollkommen überzeugt und versichert, so uns der gute, heilige, liebevollste Vater so weit geholfen hat, so wird Er uns auch sicher noch weiter helfen!
[1.90.10] Da seht nur her, hier ist ein guter, lieber Bruder zu uns gekommen. Noch weiß ich nicht, woher und wer er ist; aber so viel ist gewiss, dass ihn der allerbarmherzige Herr Jesus Christus gesendet hat, damit er mir zu eurer Rettung behilflich sein möchte, denn solches erkenne ich ja aus seiner großen Bereitwilligkeit.
[1.90.11] Seht, die bereits nackten Brüder jenseits der nunmehr glutlosen Kluft werfen sich auf die Anrede des Priors tief ergriffen abermals auf ihre Angesichter nieder und danken Gott für so viel Gnade und Erbarmung. Und der Prior fragt nun den schlichten Mann, was er meine, ob sich’s mit Balken und Brettern nun wohl für eine Brücke täte?
[1.90.12] Der schlichte Mann aber spricht: Ich meine, wenn der Herr schon die Glut ohne dein Hinzutun also gelöscht hat, so dürfte es wohl auch geschehen, dass zur rechten Zeit, wenn du ein rechtes Vertrauen hättest, sich ebenfalls diese Kluft also wieder verengen möchte, wie sie allenfalls ehedem entstanden ist.
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