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73. Aufrichtige Antworten des Priors

(Am 9. März 1843 von 4 – 6 Uhr abends.)

[1.73.1] Ich spreche zu ihm: Für diesen Augenblick hast du dich vorteilhaft aus der Schlinge gezogen. Und da du selbst eingestehst, auf meine Frage nichts antworten zu können, so will ich solche Nichtantwort auch als Antwort ansehen. Nun aber habe Acht, ich will dir eine zweite Frage geben, vielleicht findest du auf diese eine Antwort in dir. Da du, der Schrift kundig, auch bei deinen Lebzeiten auf der Erde nicht hast erfahren können, ob der Apostel Petrus je wirklich in Rom gelebt und die römische Kirche gestiftet hat, so möchte ich aber dennoch von dir erfahren, aus welchem Grunde dir bei deinen Lebzeiten eingefallen ist, dich fürs Erste emsigst um das klösterliche Priorat zu bewerben? Und warum du, als du im Wege aller schlauen Mittel dir das Priorat erschlichen hast, sogar dann einige Male an das kirchliche Oberhaupt dich verwendet hast, dich entweder zu einem Klostergeneral oder, wenn es möglich wäre, zu irgendeinem Bischof zu machen? Siehe, das ist eine wichtige Frage, und du wirst mir darauf umso sicherer eine Antwort geben können, da du solches alles an dir erfahren hast und es dir auch noch ganz lebendig vor den Augen deiner Erinnerung schwebt.

[1.73.2] Nun seht, unser paradiesischer Primus macht ein ganz verdutztes Gesicht, sucht in allen seinen Winkeln eine pfiffige Antwort und, wie ihr es leicht aus seiner verlegenen Physiognomie entnehmen könnt, findet er eben nichts dergleichen in sich, und fühlt sich sehr stark genötigt, nolens volens mit der Wahrheit hervorzutreten. Wenn diese ihm auch allenfalls solche Umstände auf der Zunge machen sollte wie eine allzuwarme Speise, so nützt solches dennoch nichts. Er entschließt sich daher, die Wahrheit zu reden, folge darauf, was nur immer wolle.

[1.73.3] Seht, er öffnet den Mund; und so hört denn, was er hervorbringen wird. Er spricht: Lieber Freund, woher du auch immer sein magst, ich sage es dir offen heraus, dass ich solches alles im buchstäblichen Sinne meiner selbst willen getan habe. Und warum tat ich solches? Weil ich bei der genauen Bekanntschaft mit den Grundsätzen der römisch-katholischen Kirche nur gar zu gut erschaute, um was es sich in ihren christlichen Theoremen so ganz eigentlich handle, nämlich um nichts anderes als allein nur um die Weltherrschaft. Und um solche zu erlangen, muss man sich ein Ansehen und durch das Ansehen Schätze und Reichtümer verschaffen können. Was aber dabei das reine Christentum für ein Gesicht macht, um das, das wirst du selber wissen, hat man sich in der römischen Kirche noch nie bekümmert.

[1.73.4] Und wenn ich mich nicht irre, dauert solch ein für das Christentum unkümmerlicher Zustand in eben dieser römisch-katholischen Kirche seit den Zeiten Karls des Großen, welcher meines Wissens den Bischof von Rom mit einer Länderei beschenkte und aus ihm somit einen weltlichen Herrscher machte.

[1.73.5] Seit diesen Zeiten hat man das Christentum in seiner reinen Sphäre, als zur kirchlichen Sache ganz unpassend, nur im Geheimen angesehen, weil es in seiner Echtheit dem weltlichen Ansehen schnurgerade entgegengesetzt ist, behielt darum bloß den Namen und modellierte dann die Lehre so, dass sie sich mit dem weltlichen Ansehen notwendigerweise vertragen musste.

[1.73.6] Ich muss dir noch dazu sagen, dass ich nicht selten bei der heimlich näheren Betrachtung des Papsttums, mich allzeit ganz lebhaft des Daniel’schen Gottes Mäusim erinnert habe, dem man Gold, Silber und Edelsteine opfern wird, und in dem keine Frauenliebe sein wird. Aber was nützte mir alle diese meine Betrachtung? Ich war einmal als ein dummer Ochse ins Joch gespannt; wer hätte mich ausspannen sollen? Solches aber ist doch sicher, dass die vorderen Ochsen am Wagen weniger zu ziehen haben, als die mehr rückwärts am Wagen angespannt sind. Und ich war froh, solches einzusehen, und darum zu trachten in ein mehr vorderes Joch gesteckt zu werden und somit mehr ein Parade- denn ein Zugochse zu sein. Hätte ich wohl anders handeln sollen?

[1.73.7] Ich hätte wohl anders handeln mögen, wenn mir Gott nicht eine so empfindsame Haut gegeben hätte. Aber zufolge der außerordentlichen Empfindsamkeit meiner Haut und zufolge des stets erfrischten Anblicks der vielen brennenden Scheiterhaufen machte ich den Klugen und tat im Grunde gar nichts. Denn ich dachte mir: Wahrhaft christlich Gutes zu tun im Sinne des göttlichen Stifters ist bei solchen Umständen so gut wie rein unmöglich. Ich tue daher lieber nichts, mache die äußere Dummheit, so gut es geht, mit, und suche mir, wo es sein kann, dieselbe wenigstens zu einem zeitlichen Vorteil zu machen. Ich wusste wohl, dass es gefehlt ist, wenn an der Lehre Christi etwas Authentisches sein sollte, aber dabei dachte ich mir wieder:

[1.73.8] Wenn der Herr irgend diese Lehre, wie sie in den Evangelien steht, gegründet hat, so wird Er wohl auch Seine Gründe haben, warum Er diese Seine einfache und höchst reine Lehre also hat ausarten lassen. Dazu dachte ich noch öfter an Paulus, der seine Gemeinden aufgefordert hatte, der weltlichen Macht untertan zu sein, ob sie gut oder böse ist; denn es besteht nirgends eine Macht, außer dass sie sei von Gott. Ist es demnach unrecht, was diese Kirchenoberhäupter tun, so mögen sie es einst verantworten. Ich aber werde tun, was einst Pontius Pilatus getan hat, da er die Kreuzigung Christi nicht hintertreiben konnte, und der Herr, als das allervollkommenste Wesen, wird es sicher auch einsehen, dass unsereiner mit der allerbeschränktesten Macht nicht gegen den allgemeinen Weltstrom zu schwimmen vermag.

[1.73.9] Siehe nun, lieber Freund, woher du auch immer sein magst, das ist die Antwort auf deine Frage; und du kannst mir jetzt auf der Stelle die Haut abziehen, so wirst du keine andere aus mir bekommen können.

[1.73.10] Nun spreche ich: Gut, mein lieber Freund, du hast nichts zurückbehalten, sondern mir im Ernst alles kundgegeben, was du deiner Erinnerung zufolge in dir gefunden hast. Aber nur möchte ich von dir noch erfahren, aus welchem Grunde du denn hernach in dieses Paradies gekommen bist. Denn wenn du in dir von der totalen Fehlbarkeit der römischen Kirche, nach deiner Äußerung, überzeugt warst, so musstest du ja doch auch überzeugt sein, dass ihre Lehre über das Fortleben der Seele nach dem Tod ebenso falsch sein muss wie alles andere. Dazu muss ich dir noch sagen, dass aus eben dieser katholischen Kirche gar viele hier angelangt sind, die alsbald in das wahre Reich Gottes gelangten, – und noch muss ich dir dazu bemerken: wenn die katholische Kirche auch wirklich in einem völligen Widerchristentum sich befand, so weiß ich mich aber doch nicht zu entsinnen, ob sie die Nächstenliebe und die Demut je untersagt hat. Daher möchte ich von dir noch erfahren, wie es demnach kam, dass du, wie schon voraus bemerkt, in dieses Paradies gekommen bist.

[1.73.11] Unser Primus spricht: Lieber Freund, woher du auch immer sein magst, diese Frage zu beantworten wird von meiner Seite wohl sicher etwas schwer halten, denn, im Ernst gesprochen, den Grund, der mich hierhergebracht hat, kenne ich so wenig wie den Mittelpunkt der Erde. Denn wenn ich dir so ganz aufrichtig gestehe, so habe ich bei meinem Leibesleben auf die Unsterblichkeit der Seele nach dem Tod mit vielen anderen Verzicht geleistet. Wenn man aber auf das geistige Leben nach dem Tod Verzicht leistet, so bleibt einem auf der Welt ja doch nichts anderes übrig, als zu leben nach dem alten römischen Spruch: Ede, bibe, lude; post mortem nulla voluptas! [Iss, trink, spiel! Nach dem Tod gibt’s kein Vergnügen mehr.] Also habe ich auch auf der Welt gelebt, um zu essen und zu trinken, und um eben des Essens und Trinkens willen alle die Weltspielereien mitzumachen.

[1.73.12] Als aber mit der Zeit der immerhin fatale Leibestod über mich gekommen ist, von dem ich mir bei meinen Lebzeiten so viele nutzlose Gedanken gemacht habe, da erst erfuhr ich, dass dieser Leibestod durchaus keine ultima linea rerum [letzte Zeile] ist, sondern dass ich nach der mir noch bis auf den gegenwärtigen Zeitpunkt unbekannten Ablegung meiner irdischen Hülle geradeso fortlebe, als wie ich ehedem auf der Erde gelebt habe; nur mit dem alleinigen Unterschied, dass ich hier statt in den schmutzigen Klosterzellen in diesen hübschen Gartensalons meine Zeit zubringe und statt einer schwarzen eine weiße Kutte trage, nicht mehr Messe lese, sondern mich hier befinde wie eine mit Vernunft begabte Blattlaus und bin im buchstäblichen Sinne ein fructus consumere natus [geborener Obstkonsument].

[1.73.13] Dass hier noch diese weltlich klösterlichen Regeln beobachtet werden, ist an und für sich ebenso unerklärlich wie alles andere. Wir stellen uns hier vor, glücklich zu sein; fürwahr, wir sind es bloß durch unsere wiedergefundene und angewohnte, ein wenig kultivierte Klosterregel. Nimmst du uns dieses weg, so sind die Feldmäuse glücklicher als wir. Ich muss dir daher zu allem dem noch hinzugestehen, dass wir samt und sämtlich hier mehr oder weniger durchaus nicht wissen, warum wir hier sind.

[1.73.14] Weißt du etwas Besseres, so gebe es uns kund, und wir wollen auch das missliche Gewisse recht gerne mit diesem ungewissen Schein vertauschen. Tue mit mir und mit uns allen, was du willst, nur mit der Hölle und mit noch mehr Fragen verschone uns. Denn jetzt habe ich dir alles gesagt, und du könntest mir jetzt schon Fragen geben, wie viel du wolltest, so werde ich auf jede gleich einem Stein zu antworten wissen; denn wo nichts ist, da kann der Tod nichts nehmen!

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