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71. Die Zweifel eines paradiesischen Augustiners

(Am 6. März 1843 von 4 1/2 – 5 3/4 Uhr abends.)

[1.71.1] Die zwei himmlischen Mönche (denn ihr müsst solches verstehen, dass, wenn es heißt „himmlisch“, es hier so viel als „im Paradies seiend“ bezeichnet) gehen voraus, und die Engel gehen mit Knitteln und Säbeln hinter uns einher. Ihr fragt, wo lauter hin sie uns etwa doch führen werden? Seht nur dort ziemlich gegen Norden hin, in der Ecke der großen Gartenmauer ist ein schmutziger Turm, versehen mit einer schwarzen Tür. Dort werden sie uns hineinpraktizieren. Was da ferner geschehen wird, wird die eigene Erfahrung lehren. Hört aber ein wenig zu unterwegs, worüber sich die zwei Paradiesmönche besprechen.

[1.71.2] Der eine sagt soeben: Was meinst du, wenn diese drei Vagabunden etwa doch Abgesandte wären von irgendeinem besseren Ort als da dieser ist, in welchem wir uns nie satt essen können, sollte man in diesem Fall sie nicht hören und sich näher erkundigen, woher sie so ganz eigentlich sind? Denn unsere Frage, die wir an sie gerichtet haben, ob sie gekommen sind von oben oder von unten, war zu vorschnell. Wir sind, wie man zu sagen pflegt, mit der Tür ins Haus gefallen. Ich setze nun den Fall, sie wären im Ernst von oben, und wir würden hier in diesem Paradies höchst unparadiesisch mit ihnen verfahren, so könnte uns so etwas sehr teuer zu stehen kommen. Meine Meinung wäre demnach diese: anstatt sie in den Zwangsturm zu treiben, sie lieber dort gegen Mittag hin in den Freiheitsturm zu bringen, der nach außen überall offen steht und nur nach innen herein verschlossen ist.

[1.71.3] Der andere spricht: Lieber Freund und Bruder, ich meine doch, du wirst nicht hier im Paradies gar ein Ketzer werden wollen. Wir wissen wohl, dass der Herr auf der Erde ohne Herrlichkeit gewandelt ist, auch war solches der Fall mit den ersten Verkündern und Ausbreitern Seiner Lehre. Du weißt aber ja, dass in dieser Zeit die Kirche des Herrn eine dürftige und eine leidende war. Nach der großen Kirchenversammlung zu Nizäa aber hat sie über alle Heiden im weiten Umkreis gesiegt. Daher hat sie denn auch aufgehört, eine dürftige und leidende zu sein und ward dafür eine triumphierende, eine reiche Kirche, ja eine Kirche voll Glanz, Herrlichkeit, Ansehen, Macht und Gewalt.

[1.71.4] Wenn der Herr dann auf der Erde Seine Kirche und Seine Diener mit solcher Herrlichkeit ausstattet, um wie viel mehr wird Er solches hier im Reich der seligen Geister tun. Wenn Er demnach höhere Boten zu uns senden wird, da kannst du ja doch mit der größten Zuversicht erwarten, dass dergleichen Boten nicht in der Gestalt solcher wahrhaftiger Gassenreißer erscheinen werden, sondern mit großer Pracht und himmlischer Majestät. Denn es heißt ja in der Schrift, dass der Herr mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels einherziehen wird. Wie sollten demnach solche Gassenreißer Abgesandte Gottes sein? Verkappte Boten der Hölle, ja, aber nicht höhere Boten des Himmels. Daher nur rechts hinüber in den Zwangsturm mit ihnen, der da gebaut ist aus lauter hochgeweihten Steinen, und es wird sich sogleich zeigen, wessen Geistes Kinder sie sind; denn solch ein geweihter Stein soll den Teufel ums Tausendfache ärger brennen, denn die unterste Hölle.

[1.71.5] Der andere erwidert: Gut, tue du, was du willst, ich aber bleibe bei meiner Idee. Wenn es am Ende schief aussehen wird, da kannst du alles auf dich nehmen. Und so denn mache, was du willst, ich will dir in deinem Plan nicht hinderlich sein. Siehe, der Turm befindet sich schon in unserer Nähe. Hier übergebe ich dir den Schlüssel, denn an dieser Expedition will ich durchaus keinen Teil haben. Ich aber habe es schon einige Mal bei mir erwogen, dass wir in der römischen Kirche mit dem Verdammen allzeit eher fertig sind als mit dem Segnen. Und da denke ich so manches Mal bei mir über den Text des Herrn [nach], da Er Seine Apostel und Jünger vor dem Verdammen und Richten auf das Eindringlichste gewarnt hat.

[1.71.6] Aus dem Grunde habe ich mir denn auch heimlich vorgenommen, niemanden mehr zu verdammen und zu richten. Und so will ich auch solche Vornahme an diesen dreien für mich zuerst vollkommen geltend machen und sage dir daher noch einmal: Tue du, was du willst; ich aber will durchaus keinen Anteil an deiner Handlungsweise haben.

[1.71.7] Der andere spricht: Also übernehme ich denn den Schlüssel und will üben die göttliche Gerechtigkeit; denn groß ist die Liebe des Herrn, aber Seine Gerechtigkeit steht über derselben und fordert sogar das Blut des Sohnes Gottes. Daher lass mich die Gerechtigkeit pflegen!

[1.71.8] Der andere erwidert dem Gerechtigkeitspfleger ganz kurz: Ich meines Teils weiß aus der Schrift wohl, dass der Herr den Aposteln und den Jüngern kein anderes Gebot denn das der Liebe gab. Auch weiß ich, dass der Herr einmal einen ungerechten Haushalter zum nachahmungswürdigen Beispiel aufführt, auch spricht Er einmal, dass Er über einen reumütigen Sünder mehr Freude hat denn über 99 Gerechte. Und daneben aber weiß ich durchaus nicht mich eines so gewichtigen Textes zu entsinnen, in welchem der Herr die strenge Gerechtigkeit so recht evident herausgestrichen hätte. Die Szene entscheidet sich am Ende rechtfertigend für den Zöllner, und der gesetzesgerechte Pharisäer wird getadelt! Wenn ich solches bedenke, da hat die zu schroffe Gerechtigkeit von unserer Seite sehr viel verloren in meinem Gemüt. Übrigens, wie gesagt, tue, was du willst. Der Turm ist hier, die drei sind auch hier. Den Schlüssel hast du in deiner Hand, somit trete ich zurück.

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