(Am 3. Januar 1843 von 4 3/4 – 7 3/4 Uhr abends.)
[1.29.1] Seht, in geringer Ferne von uns rührt sich schon wieder etwas, merkt ihr es? – Ihr sagt: O ja! Wenn uns unser Auge nicht täuscht, so sind es diesmal zwei überaus hagere und völlig bis an die Knochen abgezehrte männliche Wesen. – Ihr habt recht; daher machen wir nur eine Bewegung, und wir werden sie alsbald eingeholt haben. Seht, hier sind sie schon. Noch merken sie nichts von unserer Gegenwart, und das ist vorderhand gut; denn so können wir sie belauschen, was sie miteinander für Worte führen. Diesen Zweien werden wir uns auch gar nicht zeigen, sondern am Ende bloß auf ihr Gefühl eine Einflüsterung ergehen lassen, welche so gestellt sein soll, dass sie einen oder den anderen möglicherweise auf einen anderen Gedanken bringt. Und so denn öffnet euer Ohr und hört, denn soeben werden sie von der Hauptsache miteinander Worte zu wechseln beginnen.
[1.29.2] Der A spricht: Also geht’s dir, mein schätzbarster Freund, nun auch nicht besser denn mir; wie lange verweilst du schon an diesem Ort? – Der B spricht: Mein geachteter Freund, nach meinem Gefühl dürften es kaum noch einige Wochen sein; wie lange aber bist denn du schon hier? – Der A spricht: Mein schätzbarer Freund! Es dürften wohl schon nach meinem Gefühl etliche zwanzig Jahre her sein. – Der B spricht: Mir ist es rein unbegreiflich, wie ich hierhergekommen bin; denn du kannst mir glauben, da du mich als ein greiser Mann noch als einen tätigen Jüngling von etlichen und zwanzig Jahren gar wohl gekannt hast, ich habe stets so gelebt, wie ich es nur meiner Erkenntnis zufolge für rechtlich und billig gefunden habe. Ich verrichtete mein geistliches Amt mit großer Treue, hatte nie, was die Satzungen der Kirche betrifft, nur einen Buchstaben unerfüllt gelassen. Ich predigte allzeit vollkommen im Geiste der alleinseligmachenden Kirche; ich unterstützte, so viel es nur immer tunlich war, nach Möglichkeit diejenigen, die ich wahrhaft als dürftig erkannte, d. h. mit anderen Worten gesagt: die ohne ihr Verschulden in die Armut versunken sind. Ich gab doch tagtäglich in dem heiligen Messopfer Gott die Ehre und weiß mich keines Tages zu erinnern bis zu meiner letzten Stunde, dass ich das Brevierbeten hintangesetzt hätte. Ich fügte mich allen Anordnungen der kirchlichen Oberhäupter und wäre imstande gewesen, auf Leben und Tod zu kämpfen für die Rechte der heiligen Kirche. Ich war streng im Beichtstuhl und glaube auch, gar viele Seelen für den Himmel gewonnen zu haben; und ich habe im Sinne Christi die Dürftigen beteilt, die Hungrigen gespeist, die Durstigen getränkt, die Nackten bekleidet, die Gefangenen erlöst, und erwartete dadurch nach dem Ableben, besonders da ich mich noch obendrauf eines vollkommenen Ablasses von Seiten seiner Heiligkeit des Papstes versichert habe, dass ich nach dem Ableben ganz vollkommen sicher in den Himmel kommen würde.
[1.29.3] Allein was für eine Bewandtnis es mit dem von mir sicher gehofften Himmel hat, das siehst du hier so gut wie ich. Ich habe es, weißt du, lieber Freund, bei mir so ganz heimlich wohl oft gedacht, aber freilich nie öffentlich ausgesprochen, dass das Christentum samt Christus nichts anderes ist als ein kultiviertes Heidentum und habe daher auch auf Christus samt der Dreieinigkeit wenig Vertrauen gesetzt; und da ist es jetzt klar genug vor mir, wie sehr ich in diesem meinem heimlichen Misstrauen recht hatte. Nun, was sagst denn du dazu?
[1.29.4] Der A spricht: Ja, mein lieber, schätzbarer Freund, was sollte ich dazu sagen? Ich war kein Priester, lebte aber dessen ungeachtet, man kann sagen, beinahe streng so, wie mich, versteht sich von selbst, die besseren Priester belehrt haben. Ich hatte wohl auch gewisserart so manchen Zweifel; aber ich dachte nur dabei, sei es dem, wie es wolle, ich lebe ganz ruhig so, wie ich zu leben von den Priestern gelehrt wurde; es kann für mich ja unmöglich gefehlt sein. Denn ich dachte mir: Ist ihre Lehre falsch und ein Unsinn, so haben sie es zu verantworten; ich selbst aber wasche mir die Hände. Und wenn Gott im Ernst ein so gerechter Richter ist, wie alle die Priester auf den Kanzeln von Ihm gepredigt haben, so muss Er mich belohnen, vorausgesetzt, dass Er irgend wirklich ist; gibt es aber keinen Gott, dann ist ja ohnehin alles eins, wie man lebt. Gibt es ein Leben jenseits, so muss dieses doch sicher entsprechend sein dem allzeit ehrlichen Charakter eines Menschen; und gibt es kein Leben nach dem Leibestod, so wird es auch sicher wenig daran gelegen sein, wie jemand auf der Erde gelebt hat. Du kannst nun daraus ersehen, dass ich auf der Welt als ein vollkommen ehrlicher, kluger und treugehorsamer Mann gelebt habe; nun bin ich schon so lange hier, und das ist der Lohn!
[1.29.5] Nichts als eine beinahe undurchdringliche, überaus frostige Nacht, von keinem noch so trüben Tag mehr abgewechselt; außer einigem besandeten Moos keine Nahrung, und dieses alles sollte etwa mit der von euch Priestern oft gepredigten Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes übereinstimmen?! Ich denke jetzt schon über zwanzig Jahre nach, ob es einen Gott oder keinen gibt; und wo ich immer jemandem begegne und mich mit ihm über diesen Punkt bespreche, so weiß er am Ende um kein Haar mehr denn ich. Es nimmt mich daher auch umso mehr wunder, dass du, ein gewesener Priester, der doch immer für das sogenannte Reich Gottes gearbeitet hat, eben mit demselben Los beteiligt bist wie ich. Ich meine, wir sind alle zusammen mit Christus angeschmiert; denn es ist mir gar oft rätselhaft vorgekommen, wie sich ein Gott habe können töten lassen! Die alten, weisen Hebräer kannten Christus sicher besser als wir und wussten daher Ihn als einen jüdisch-pietistischen Schwärmer gehörig aus dem Weg zu räumen und haben Ihn dann schön sauber den früher glücklichen Römern als eine pfiffige Prämie darum in die Arme gespielt, weil ihnen diese ihre Königsstadt zerstört haben. Sie blieben für sich bei ihrem alten Gott, der doch offenbar ein viel göttlicheres Aussehen hat, denn unser Gekreuzigter. Nur wir mussten hernach zufolge des jüdischen Geniestreiches den Gott annehmen, der bei ihnen das schimpflichste Wesen war. Ich meine, solches ist bereits mit den Händen zu greifen; denn wäre an dem Christus etwas, so müsste hier in dieser, ich kann dir sagen, endlos großen Weltsphäre doch einer etwas Reelles von Ihm wissen. Aber da kannst du Tausenden begegnen, die du alle als lauter nüchterne und bescheidene Menschen erkennen musst, und nicht einer weiß eine Silbe von Ihm. Ich kann dir sagen: Ich bin schon mit Menschen zusammengekommen, die ein- bis zweitausend Jahre sich schon in dieser Gegend befinden und sich das Moosfressen auch schon ganz vollkommen angewöhnt haben. Diese waren doch gleichzeitig mit dem Christus auf der Erde, falls es, unter uns gesagt, je einen Christus gegeben hat, und diese wissen von Ihm geradeso viel wie wir; manche darunter geben vor, diesen Namen nie gehört zu haben. Siehe, das sind so meine Ideen, die ich im Verlaufe meines Hierseins und mitunter auch wohl schon in meinem Leibesleben ganz heimlichermaßen zuwege gebracht habe; wie gefallen sie dir?
[1.29.6] Der B spricht: Mein schätzbarer Freund, ich muss dir offen gestehen, dass deine Ideen sehr viel für sich haben. Jedoch kann ich anderseits das wieder von den weisen Juden, die die Kenntnis von dem rechten Gott hatten, nicht als völlig wahr annehmen, dass es ihnen darum sollte zu tun gewesen sein, aus Rache gegen eine große Nation, wie die Römer waren, einen quasi Galgenschlingel denselben als einen Gott auf den Hals zu werfen. Denn es hat gerade um dieselbe Zeit unter den Römern auch die weisesten Männer gegeben, und danach wäre es eben nicht zu vernunftgemäß, diese große und weise Nation für so dumm zu halten, dass sie statt ihrer gepriesenen und viel besungenen bedeutungsvollen Götter einen so erbärmlichen Austausch hätten machen sollen.
[1.29.7] Da du mir aber schon deine Meinung in dieser Hinsicht kundgetan hast, so will ich dir mich auch näher aufschließen und will dir kundgeben, was ich bei mir in meinem Leibesleben eben nicht selten gedacht habe, und dieses Gedachte lautet also: Die Römer, namentlich der römische Priesterstand, haben es ganz heimlich gemerkt, dass es für die Länge mit all ihren Gottheiten sich nicht mehr tun wird. So suchten sie nach und nach für das stets mehr sinnlich gewordene Volk eine sinnlichere Mythe, machten es dabei so, dass sie vorgaben, als habe sich der oberste Gott Jupiter der Menschheit überaus erbarmt. Und da unter allen Völkerstämmen die jüdische Nation am entferntesten war dem wahren Göttertum, so habe sich Jupiter selbst herabgelassen und habe sich in die Gestalt eines Juden begeben und das Volk gelehrt die Wahrheit der rechten Gotteslehre Roms. Solche Lehre war den Juden ein Gräuel, besonders weil sie die Römer zu der Zeit gar übel im Magen hatten. Sie boten daher alles auf, um diesen wahren Gott Jupiter in der menschlichen Gestalt zu verdächtigen. Pilatus wusste gar wohl, was hinter Christus steckt; darum habe er Ihn auch so viel als möglich verteidigt. Da aber die Juden sich durchaus nicht besänftigen ließen und den Pilatus als einen Mitrebellen bei dem Kaiser zu verklagen drohten, so dachte Pilatus bei sich selbst: Ich übergebe euch den Allmächtigen; Er wird es sicher besser wissen als ich, was Er mit Sich wird machen lassen. Und dieser hatte Sich dann pro forma auf die römische Art von den Juden kreuzigen lassen und stand aber dann als Jupiter gar leichtlich wieder vom Tode auf und ließ dann den Hohenpriestern zu Rom melden, was sie nun zu tun hätten. Diesen Priestern war das ein gewünschtes Wasser auf ihre Mühle, und sie lehrten dann das Volk so, wie sie sich diese Mythe im Einverständnis mit den Römern im Judenland ausgedacht hatten; erdichteten mit der Zeit noch eine Menge Blutzeugen hinzu, und mochten wohl auch im Einverständnis mit den Kaisern entweder einige wirkliche oder blinde Grausamkeiten ausgeübt haben und schwatzten hernach dem dummen Volk eine Menge Wundererscheinungen bei solchen Gelegenheiten vor. Und so ging das alte, schon morsch gewordene Heidentum unter immer demselben Pontifikat auf uns über, und wir sind notgedrungen Tölpel genug gewesen, solch einen wahren Philisterstreich als bare Münze anzunehmen. Dafür aber repräsentiert sich meines Erachtens hier auch ganz vollkommen der Lohn unseres neukreierten Heidentums.
[1.29.8] Der A spricht: Mein schätzbarer Freund! Ich muss dir offenherzig bekennen, deine Meinung hat offenbar mehr für sich als die meinige, nur verstehe ich dann nicht, wie man bei solch einem pfiffigen Unternehmen dann das neukreierte Heidentum auf das Judentum hat basieren können. Denn meines Wissens, so viel ich aus den sogenannten Evangelien weiß, bezieht sich der Christus ausschließend auf die sogenannten Propheten der Juden, und es lässt sich dann wohl nicht leichtlich annehmen, dass die stolzen, weisen Römer zur Kreierung einer einträglichen Religion sich der Religion der ihnen über die Maßen verächtlichen Juden bedient hätten. Ferner muss ich dir ganz offen bekennen, dass die absolute Lehre Christi, bis auf manche unbedeutende Wunderalbernheiten, an und für sich eine ganz menschlich kluge Lehre ist und taugt meines Erachtens am allerwenigsten für die nur allzu bekannte römische Habsucht. Aus dem Grund lässt sich eben nicht gar zu leicht erweisen, dass sie ein Werk des römischen Priestertums ist, wohl aber ist sie sicher ein Werk der Juden; denn man weiß es aus der Geschichte nur zu bestimmt, wie sehr sich die Römer gegen den Eingang dieser Lehre gesträubt haben!
[1.29.9] Der B spricht: Mein geschätzter Freund! In dieser Hinsicht bist du viel zu wenig eingeweiht in die geheimen Schleichwege des Priestertums. Siehe, du hast in der Geschichte wohl gelesen, dass sich verschiedene römische Kaiser allertätigst gegen die Einführung dieser Religion gesetzt haben; nenne mir aber auch einen römischen Pontifex, der sich namentlich dawider gesträubt hätte. Siehe, also war die Sache fein abgekartet, und diese neukreierte Religion hätte nie einen besseren Eingang gefunden als eben durch die notwendig scheinbar grausame Widersträubung der römischen Kaiser. Dass diese neukreierte Religion auch auf das Judentum basiert wurde, hat ja den mit Händen zu greifenden Grund, weil die römischen Weisen bei der Gelegenheit ihrer vielseitigen Eroberungen eine hinreichende Gelegenheit hatten, mit vielen Religionen Bekanntschaft zu machen und konnten dadurch sehr leicht finden, dass eine neu zu kreierende Religion auf keine besser zu basieren ist denn gerade auf diese jüdische. Darum haben sie auch ihren menschgewordenen Zeus aus sehr weisen Gründen im Judenland auftreten lassen; denn sie wussten es genau, dass es mit allen anderen Religionen ein noch morscheres Verhältnis habe denn mit der ihrigen.
[1.29.10] Der A spricht: Ja, geachteter Freund, jetzt bekommt deine Sache freilich ein ganz anderes Gesicht, und ich kann nun nicht umhin, ganz deiner Meinung beizupflichten. Ja, ja, wäre es nicht so, woher käme sonst diese Gold- und Silbergier des noch gegenwärtigen römischen Pontifikats? Dessen ungeachtet aber muss ich dir doch auch hinzu bekennen, dass die eigentlich reine Sittenlehre Christi, rühre sie, woher sie wolle, über alle Kritik erhaben gut ist. Solches hat mich auch noch zuallermeist an das Christentum gehalten. Dass sich mit der Zeit manche eigennützige Schmarotzerpflanzen auf diesen reinen Baum angeklebt haben, solches, erlaube mir, ist auch unverkennbar, und so muss ich dir sagen, und es kommt mir eben dazu gerade jetzt eine Idee: Wenn ich möglicherweise je irgend einem solchen reinen Christus begegnen würde, wahrlich, ich könnte Ihm unmöglich feind sein!
[1.29.11] Und der B bemerkt: Ja, wenn es einen gäbe, da wäre ich auch dabei; aber darin liegt ja eben der Hund begraben! – Und der A bemerkt: Weißt du was, nehmen wir uns vor, das Grab dieses deines Hundes zu suchen; und haben wir es gefunden, so haben wir doch wenigstens ein Sinnbild der Treue gefunden! – Seht, über dem A wird es schon etwas heller, aber über dem B wird es noch lange nicht; und da wir hier nichts mehr zu tun haben, so begeben wir uns wieder weiter!
Kein Kommentar bisher