(Am 2. Januar 1843 von 4 1/2 – 6 Uhr abends.)
[1.28.1] Seht, da sind wir schon wieder auf dem ersten Standpunkt. Es graut euch wohl ein wenig, euch da hineinzubegeben; allein so viel Raum hat die Schlucht noch immerwährend zwischen den schroffen Felswänden, dass wir uns recht bequem werden über den etwas riffigen Weg ziehen können. Auf dem Weg werdet ihr gar viele enge Talschluchten links und rechts entdecken. Zur linken oder mittägigen Seite haben diese Täler ganz dieselbe Bedeutung, wie wir sie gesehen haben im ersten Tal links, allda die Reichen der Erde wohnen. Der Unterschied besteht nur darin, dass die Bewohner dieser tiefer liegenden Täler an Wohltaten stets ärmer sind, obschon sie stets desto reicher waren auf der Erde an irdischem Vermögen.
[1.28.2] In den Tälern rechts ist die Wohnung für allerlei Gelehrte, Vernunft- und Verstandesmenschen; je in einem tieferen und mehr im Hintergrund gelegenen Tal solche wohnen, desto mehr waren ihre Wisstümlichkeiten auf der Erde vom Herrn entfernt. Und da ihr solches wisst, so können wir unseren Weg auch mit gutem Erfolg beginnen und uns in jene Gegend begeben, allda ihr überaus Wichtiges sollt kennen lernen. Und so denn gehen wir!
[1.28.3] Ihr fragt, woher wohl diese Wasser kommen, die da aus diesen Tälern von beiden Seiten her in diese enge Schlucht schießen und sich durch diese als ein reißender Gebirgsbach hinaus ergießen in des großen Meeres Bucht? Die Wasser bedeuten die Wisstümlichkeiten und daraus entsprungenen Nutzwirkungen, welche solche Menschen vermöge ihres Verstandes und Vernunftlichtes auf dem Wege der Erfahrungen von der Naturmäßigkeit der Dinge entnommen haben. Die von der rechten Hand herkommenden sind, wie ihr seht, viel trüber. Solches bezeichnet das viele Falsche, welches in all den gelehrten Wisstümlichkeiten vorhanden ist, und die etwas weniger trüben von der linken Seite her bezeichnen, dass die Reichen der Welt bei ihrem geringen wissenschaftlichen Reichtum aber dennoch besser zu rechnen verstanden denn die eigentlichen nackten Gelehrten. Dass die Wasser hier in dieser Schlucht zusammenstoßen, bedeutet, dass das Vermögen der Wissenschaft und das Vermögen an den Schätzen der Welt sich allzeit vereinigen und am Ende auf eins hinausgehen. Denn der Gelehrte sucht die Wissenschaft, um durch dieselbe weltschatzreich zu werden, der Weltschatzreiche aber sucht die Wissenschaft, um mittels derselben sein Vermögen noch mehr zu erhöhen. Aus diesem Grund erschaut ihr auch, dass die Wasser von der Linken her bei weitem nicht so stark brausen als die von der Rechten. Und solches besagt auch noch dazu, dass der Weltschatzreiche sich stets auf eine politische Weise unter den Gelehrten zu stecken weiß, um von dessen Gelehrsamkeit eines oder das andere für seinen spekulativen Bedarf zu gewinnen. Solches wüssten wir jetzt auch, und so können wir wieder unsere Reise fortsetzen.
[1.28.4] Seht, dort ziemlich weit noch im Hintergrund steigt eine gerade, hohe Steinwand auf. Allda hat unser Talwerk links und rechts auch ein Ende. Diese Wand öffnet sich zuweilen und bildet einen ziemlich geräumigen Sprung. Wenn man zu der Zeit hinzukommt, so kann man da weiterdringen; wenn man aber nicht einen solchen Zeitpunkt trifft, so ist da kein Durchgang möglich. – Ihr sagt: Auch nicht auf die Weise, wie wir uns in der nördlichen Gegend auf die Berge gehoben haben? – Ich sage euch: Hier auch auf diese Weise nicht, und das zwar aus dem Grund, weil ihr noch Irdisches an euch habt. Wir werden aber ohnehin den Zeitpunkt antreffen, da sich die Wand öffnen wird. Und da hinter der Wand sich also gleich eine überaus große Ebene ausbreitet, so werden wir bis zur Zeit des Sichwiederschließens der Wand leichtlich durch die ziemlich weite Spalte kommen. Und seht, hier sind wir schon bei der Wand. Geduldet euch nur ein wenig, und alsbald soll sie sich öffnen. Ich sage nun: Tue dich auf! – Und seht, schon trennt sich die mächtige Wand; nun ist die Spalte groß genug, also nur hurtig durchgesetzt! Wir haben die Spalte glücklich passiert, und nun seht euch um, wie die Wand schon wieder fest geschlossen ist.
[1.28.5] Aber jetzt seht vorwärts in die Gegend, in der wir uns befinden; wie gefällt sie euch? – Ihr sagt: Was ist das für eine Frage? Wie soll uns diese Gegend gefallen, in der es so finster ist, dass wir offenbar weiter greifen als sehen. Wir müssen uns bloß an dich anhalten, sonst wären wir offenbar verloren, denn wir sehen ja nicht einmal den Boden, den wir betreten, und wissen daher nicht, auf was wir gehen, sind es Steine, Sand, Unflat oder Gewässer. Denn, wie gesagt, wir sehen hier nichts, nicht einmal dich und uns selbst.
[1.28.6] Ja, meine lieben Freunde, hier ist es denn einmal so. Ihr fragt mich, ob auch in dieser Gegend allenfalls lebende Wesen existieren? – Ich aber sage euch: Es ist nicht leichtlich irgendeine Gegend so bevölkert wie diese; denn hier kann man im Ernst sagen: In diesem Markt der Finsternis wimmelt es von Menschen.
[1.28.7] Ihr möchtet wohl ein wenig Licht haben, damit wir doch örtlicher Weise etwas auszunehmen vermöchten? – Ich aber sage euch: Es würde uns nicht gut zustattenkommen, so wir uns hier eines Lichtes bedienten, denn wir würden sodann alsbald von den Bewohnern dieser Gegend nahe so umringt sein wie ein Würmchen, wenn es auf einen Ameisenhaufen fällt. Allein geduldet euch nur ein wenig; es wird sich unser Auge gar bald so erweitern, dass wir, einer Nachteule gleich, auch in dieser Finsternis etwas zu schauen bekommen werden; und so denn bewegen wir uns noch ein wenig vorwärts. Nun, seht ihr schon etwas? – Ihr sagt: Ganz schwach fangen wir wohl an, wahrzunehmen, dass der Boden, auf dem wir stehen, zumeist lauter Sand ist; und da vor uns scheint sich etwas zu bewegen.
[1.28.8] Ja, ja, ihr habt recht; gehen wir daher nur darauf los und ihr sollt sobald mehr ins Klare kommen, was sich da bewegt. Nun seht, das Bewegende bewegt sich auf uns zu. Seht, es ist eine zuammengebückte, armseligst aussehende Menschengestalt. Wollt ihr sie fragen, wer sie ist? Ihr getraut euch nicht, so will ich solches tun. Und so hört denn; ich will die Gestalt anreden.
[1.28.9] Was machst du hier, armseliges Wesen? Woher bist du? – Die Gestalt spricht: Ich bin schon bei drei Erdjahren in dieser Gegend und laufe herum als ein wildes Tier und finde nichts, damit ich meinen großen Hunger stillen könnte. Warum ich nach meinem Ableben auf der Erde in solch eine miserable Gegend habe kommen müssen, weiß ich durchaus nicht. Ich war auf der Erde ein großer Herr und hatte ein großes Amt über mich. Dieses Amt habe ich stets als ein rechtlicher und treuer Beamter verwaltet; ich ließ mich durch gar nichts bestechen, sondern handelte streng nach dem Gesetz und erfüllte somit meine Pflicht zur allseitigen Achtung, wurde sogar von meinem Monarchen geachtet und ausgezeichnet. Ich tat aus meinem amtlich verdienten Einkommen freiwillig so manches Gute und lebte in jeder Hinsicht als ein nachahmungswürdiges Beispiel. Als ich aber dann das Zeitliche verließ, da kam ich in diese schauerliche Gegend, in der ich schon, wie gesagt, drei Jahre lang herumirre, und nirgends ist da ein Ausweg zu finden.
[1.28.10] Und ich, euer Führer, frage ihn weiter: Mein guter Freund, solches mag ja alles sein; hast du aber auch bei all deiner Amtierung je auf Christus, den Herrn, gedacht und geglaubt? Hast du je aus Liebe zu Ihm etwas getan? Und hast du wohl alle noch so gemeinen Menschen als deine Brüder betrachtet? Sage mir, wie steht es da? – Der Armselige spricht: Wie kann ein gebildeter Mann auf so einen alten Weiber-Christus glauben? Dessen ungeachtet aber habe ich, um niemandem ein politisches Ärgernis zu geben, alle christlichen Torheiten mitgemacht. Und wer könnte wohl so töricht sein und verlangen von einem Mann, der ein hohes Staatsamt bekleidet, dass er die rohen Gassenschlingel für seine Brüder betrachten sollte? Und aus Liebe zum alten Weiber-Christus etwas zu tun, da müsste man doch vorerst im Ernst so närrisch werden, auf einen solchen Christus zu glauben, dann erst sehen, ob man aus einer gewissen Liebe zu Ihm etwas tun könnte. Ich glaubte aber dessen ungeachtet auf einen Gott und dachte oft bei mir selbst: Wenn dieser Gott gerecht ist, was er doch offenbar sein muss, so muss er einem gerechten Mann, wie ich einer war, falls nach dem Tod es ein Leben gibt, auch die volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Dass es nach dem Tod ein Leben gibt, solches erfahre ich drei schauerliche Jahre schon; denn so lange dürfte es wohl sein, dass ich hier gleich einem wilden Tier herumirre. Aber leider muss ich in diesem Zustand erfahren, dass es keinen Gott gibt; denn wäre irgendein Gott, so müsste er mich so gut ansehen, wie mich mein Monarch angesehen hat. Da aber sicher alles nur ein Werk des blinden Zufalls ist, so bin ich auch wieder in diesen blinden Zufall zurückgekommen und muss nun erwarten, was dieser wieder aus mir machen wird. Habt ihr aber etwas für den Magen, so gebt mir was zu essen; denn ich bin übermäßig hungrig und habe keine Nahrung außer ein zufällig angetroffenes Moospflänzchen.
[1.28.11] Und ich, euer Führer, spreche zu ihm: Höre, Freund! Es gibt einen Gott, der gerecht ist, und dieser Gott ist kein anderer als dein alter Weiber-Christus! Solches sei dir ein Gnadenstrahl, auf dass du wissest, an wen du dich zu wenden hast, wenn es dir noch schlechter gehen sollte denn jetzt.
[1.28.12] Siehe, alles was du getan hast, wenn es auch an und für sich noch so gerecht war, so hast du alles solches lediglich aus deiner Eigenliebe getan; denn deine Liebe war dein rechtliches Ansehen und danach das allseitige Wohlgefallen und die hohe Schätzung der Welt. Daher hast du auch nichts mitgebracht als deine eigene Liebe, welche seit der Zeit kein Licht hat, da ihr das Licht der Welt genommen ward. Das Licht des Geistes und seine Gerechtigkeit aber ist Christus! Wende dich in deinem Herzen an Ihn, so wird dir nach dem gerechten Maß deiner Wendung Licht und Brot werden; und nun verlasse uns!
[1.28.13] Seht, wie er nun nachdenkend dahinschleicht; und merkt ihr, wie über ihm das schwarze Gewölk eine leichte Grauhelle bekommt? Das rührt daher, weil er nun angefangen hat, über Christus nachzudenken. Doch gehen wir weiter, und es werden sich uns bei weitem interessantere Fälle darbieten.
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