[94.1] Chanchah fällt nun vor den hundert auf ihr Angesicht und fleht sie um Vergebung all des Üblen an, das sie – wenn auch unwillkürlich – an ihnen getan hat.
[94.2] Die hundert aber sagen alle einstimmig: „Holdeste Chanchah, so dir’s der große heilige Lama vergeben hat, was wohl sollen dann wir noch wider dich haben! Hat ja doch derselbe Heilige der Ewigkeit auch uns vergeben, die wir dem Ormuz doch auch viele und große Opfer gebracht haben. Daher erhebe dich und kneife uns ins Ohrläppchen zum Zeichen, dass wir für ewig nun einander aus dem tiefsten Lebensgrund vergeben haben!“
[94.3] Chanchah erhebt sich nun gar lieblichsten Angesichts und Wesens und tut, was die hundert von ihr verlangen. Nachdem sie alle die hundert sanft ins Ohrläppchen gekneift hat, spricht sie:
[94.4] [Chanchah:] „Eure Herzen seien mein köstlichster Schmuck, euer Anblick die schönste Weide meiner Augen. Mein Herz aber sei euch ein sanftes Ruhekisschen, an dem ihr ausruhen wollt, so euch die Liebe müde gemacht hat. Meine Arme seien euch ein sanftes Band für Herz ans Herz, und aus meinem Mund fließe unversiegt der köstlichste Balsam in euer Leben.
[94.5] An meiner Brust sollt ihr euch schwingen bis zu den Sternen und meine Füße sollen euch tragen über harte Wege. Und wann die Sonne untergeht und kein Mond der Erde leuchtet und der Sterne Schimmer dichte Nebel überdecken, dann soll mein Augenpaar euch erleuchten den Pfad eurer Sehnsucht, und all mein Eingeweide soll euch erwärmen in der frostigen Lebensnacht.
[94.6] Also will ich euch sein ewig eine sanfteste Dienerin in den zartesten wie in den schwersten Bedürfnissen eures Lebens ewig, darum ihr mir euer Ohr geliehen habt zur Vergebung meiner schweren Sünde an euch.“
[94.7] Nach dieser Rede, die die liebliche Chanchah gesprochen, geht einer aus der Mitte der hundert zu ihr hin, hebt beide Hände über sie und berührt sie am Kopf mit den Zeigefingerspitzen und spricht: „O Chanchah, o Chanchah! Wie gar so schön bist du nun! Ich sage dies so laut nun, wie da braust ein mächtiger Sturm, und sage es dir auch so sanft, als wie sanft da fächelt ein duftiger Abendhauch um die zarteste Wolle der Gazelle. Du bist schöner nun als die Morgenröte über den blauen Bergen, die da zieren die große Stadt der Mitte der Reiche der Erde, und herrlicher als die Chujulukh (eine der schönsten Blumen, die nur im kaiserlichen Garten in China gezogen wird).
[94.8] Dein Haupt ist lieblicher als der Kopf einer Goldtaube und dein Hals runder und weißer als der einer weißen Gazelle. Deine Brust ist sanfter und weicher denn Tuschuran (eine Art weichster Wolle, die an einer Schilfstaude wächst), und deine Füße sind kleiner denn die einer Antilope, die da hüpft und tanzt auf Himalajas höchsten Spitzen. Ja, so lieb uns die Sonne ist, so lieb bist uns auch du. Und wie herrlich der Vollmond den wogenden Spiegel der Seen bescheint, so herrlich bescheint deine Anmut auch unsere Herzen.
[94.9] Und so sollen von nun an denn auch deine Wünsche ebenso lieblich in unseren Seelen erscheinen und unsere Herzen also über und über erquicken, als wie da erquicken die Sterne die Herzen zerstobener Schiffer, die am weiten Ozean ihre Segel hissen unbewusst am Tag, wohin sie den Lauf der Schiffe richten sollen, um zu gelangen in die glückliche Heimat.“
[94.10] Darauf wendet er sich zu Mir und spricht: „O Freund, ist es recht also, dass wir diese, die unsere Feindin war, also aufgenommen haben wie ein Herz in hundert Herzen?“
[94.11] Rede Ich: „Ja, so ist es recht nach eurer besten Sitte. Aber da ihr alle nun nicht mehr auf der Welt, sondern im ewigen Reich der Geister euch befindet, allwo andere Sitten und Formen gang und gäbe sind, so werdet ihr euch nach und nach auch danach richten und in allem so handeln, wie ihr es an uns sehen werdet, so ihr hier verbleiben wollt! Wäre euch aber eures Landes Tugend lieber als die dieses Hauses, da freilich müsstet ihr dann zu jenen übergehen, die noch gar lange zu tun haben werden, bis sie dies Haus erreichen werden!“
[94.12] Spricht die Chanchah: „O du lieblichster, du herrlichster Freund der Armen – siehe, wir wollen hier so sein wie die feinste Porzellanerde, die sich in alle edlen Formen fügen lässt. Dein Wille sei unser Leben und dein Wort ein heiliges Wort Lamas!“
[94.13] Rede Ich: „Komm her, du lieblichste Chanchah, Ich will dir ein neues Kleid geben, welches dich herrlicher zieren soll denn die schönste Morgenröte die blauen Spitzen der Berge!“
[94.14] Chanchah springt nun förmlich zu Mir hin, und der Martin bringt schon aus der goldenen Kiste ein rotes Kleid, das da mit vielen Sternen verbrämt und wohl geschmückt ist, und übergibt es Mir mit den Worten:
[94.15] [Bischof Martin:] „Das wird dieser wirklich schönsten Chanchah gar überhimmlisch herrlich gut stehen; das ist ein wahres Kleid der Liebe! Ich muss es offen gestehen, diese Chinesin gefällt mir nun auch ganz überaus gut; nur in ihre echt chinesischen Redensarten kann ich mich noch nicht so recht finden. Da hängt noch viel Irdisches daran, aber sonst echt orientalisch poetisch. Ich hätte wirklich nicht geglaubt, dass in den Chinesen so viel ganz ehrliche Lyrik zu Hause ist. Aber mir gefällt das! Diese lassen wir auf keinen Fall mehr weiterziehen!“
[94.16] Rede Ich: „Hast recht – auch Mir gefallen sie, und das Herz dieser Chanchah aber ganz besonders. Aber sie werden dir noch so manches zu schaffen geben! Aber nun zur Chanchah!
[94.17] Hier, du liebliche Tochter, empfange das Kleid, es ist das der Liebe und weisen Sanftmut in dir! Wohl warst du eine Verräterin an diesen, die das Zeugnis des Jesuslama annehmen wollten. Aber du warst zur Verräterin durch die Tugend deines Reiches und wolltest nur retten des Kaisers Leben, aber dabei nicht opfern das deiner Brüder. Solches hat hernach der Kaiser getan; und hätte es aber nicht getan, so er dein Herz in seiner Brust gehabt hätte. Du bist sonach völlig schuldlos und rein, also wie dieses Kleid, mit dem Ich dich nun bekleide. Nimm es hin, es ist Meine große Liebe zu dir!“
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