[89.1] Als der Bischof Martin noch weiter die Liebe anpreisen will, da ruft ihn jemand [von] außerhalb der Hausflur beim Namen: „Martin!“
[89.2] Als Martin solchen Ruf vernimmt, fragt er gleich den Borem, wer ihn nun etwa doch gerufen habe.
[89.3] Spricht Borem: „Bruder, gehe hinaus und du wirst es sehen; denn siehe, es ist mitunter hier auch wie auf der Welt, man kann hier außer dem Herrn auch nicht alles auf einem Punkt zu Gesicht bekommen, sondern muss sich zu dem Behuf manchmal wohl auch an verschiedene Orte begeben, um Verschiedenes zu sehen und zu vernehmen, wie du dich nun schon gar oft wirst überzeugt haben!
[89.4] Daher, wie gesagt, gehe du nun nur eilends hinaus, und es wird sich dir sogleich zeigen, wer dich gerufen hat! Denn, weißt du, mein geliebter Bruder, für gar alles weiß ich dir auch noch keinen allzeit sicheren Bescheid zu geben. Ich höre abermals rufen; gehe, gehe, und sehe nach, wer da ruft!“
[89.5] Spricht Bischof Martin: „Ja, ja, ich gehe schon; wahrscheinlich werden wieder irgend Verirrte Hilfe suchen!“
[89.6] Bischof Martin geht nun eilends an die Hausflur, öffnet sie und erstaunt nicht wenig über die endlose Pracht seines Gartens, der mittlerweile an der Ausdehnung und an allen wunderbarsten reichsten Segnungen über alle menschlichen Begriffe zugenommen hat, d. h. seit der Zeit, als der Bischof Martin den Borem in diesem Garten pflanzend angetroffen hat.
[89.7] Auch diesmal ersieht Bischof Martin niemanden an der Flur harren und begibt sich darum sogleich in den Garten, den zu suchen, der ihn zuvor gerufen hatte. Er kommt, gegen Morgen gewendet, zu einer herrlichsten Laube, die da aussieht wie ein größter offener Tempel. In der Mitte dieses gewisserart lebendigen Tempels ersieht er jemanden stehen, der sich mit der Sonderung einiger Pflanzen beschäftigt, die auf einem ebenfalls lebendigen Altar liegen.
[89.8] Bischof Martin betrachtet diesen Menschen eine kurze Weile, geht dann auf ihn zu und redet ihn also an: „Liebster, bester Freund und Bruder, warst nicht du es, der mich ehedem aus meinem mir vom Herrn gegebenen Haus bei meinem Namen rief? Und so du es warst, da gebe mir es auch gütigst kund, womit dir mein Herz dienen kann und soll!“
[89.9] Spricht darauf der Botaniker: „Lieber Freund und Bruder! Siehe, dein Haus ist nun überaus geräumig geworden und dieser Garten im gleichen Maß. Du beherbergst wohl schon über tausend Brüder und Schwestern, was von dir überaus edel ist. Ich aber meine, wo tausend und darüber Platz haben, da sollte sich wohl noch für einige Platz vorfinden lassen?
[89.10] Gehe mit mir, dort gegen Abend dieses deines Gartens befinden sich hundert Arme, die da Unterkunft suchen; diese nehme noch auf – und mich auch dazu, da ich gewisserart auch zu ihnen gehöre, und siehe, es wird das dein Schade nicht sein!“
[89.11] Spricht Bischof Martin: „O liebster Freund und Bruder – was hundert! Ich sage dir’s, so es ihrer auch 10.000 wären, da ließe ich doch keinen weiterziehen, sondern würde nur alles aufbieten, dass sie alle bei mir blieben! Daher führe mich nur gleich zu ihnen hin, auf dass ich sie nur desto früher aufnehme und nach allen meinen mir vom Herrn verliehenen Kräften bestens versorgen kann!“
[89.12] Spricht der Botaniker: „O Freund, o Bruder, du bist meinem Herzen ein köstlicher Balsam geworden! Komme, komme daher nur schnell mit mir; wir werden sogleich bei ihnen sein!“
[89.13] Beide begeben sich nun schnell gegen Abend hin und kommen zu einer gar elend aussehenden Menschengruppe, bestehend aus männlichen und weiblichen Wesen. Alle sind nahe nackt, höchst abgezehrt und daneben voll Geschwüren und Rauden [Hautausschlägen].
[89.14] Als Bischof Martin diese Armen ersieht, da kommen ihm die Tränen und er spricht ganz teilnehmend und voll des herzlichsten Mitgefühls: „O mein Gott, mein Gott, wie sehen diese Armen aus! Kaum noch haben sie ein Leben! O kommt, kommt alle mit mir in dies mein Haus, auf dass ich euch ja sogleich alles angedeihen lasse, was euch gesund und stärker machen kann! Der Herr, unser aller heiligster und bester Vater Jesus, wird mir dazu Kraft und Mittel verleihen!“
[89.15] Sprechen die Armen: „O du sichtbarer Engel Gottes – wie gut muss der Herr sein, da du schon so endlos gut bist! Du siehst aber ja, wie unrein wir sind. Wie können wir es wagen, deine reinste Wohnung zu betreten!?“
[89.16] Spricht Bischof Martin: „War ich doch viel unreiner denn ihr und bin rein geworden in diesem Haus der Liebe. So hoffe ich zu Gott, ihr alle werdet es auch, und so kommt, kommt, liebe Freunde, Brüder und Schwestern, ohne Scheu nur sogleich mit mir, und ihr Schwächsten aber hängt euch an mich, auf dass ihr leichter in mein Haus kommt! Auch du, Bruder (der Botaniker), greife einigen Schwächsten unter die Arme!“
[89.17] Spricht der Botaniker: „O Bruder, du Mein Herz, du Kern Meiner Liebe, welche Freude machst du Mir! Wahrlich, das soll dir einst groß vergolten werden! Ja es ist dir schon vergolten, denn siehe, Der, den du nun so sehr liebst, ist nun bei dir. Ich bin’s ja – der Herr, dein Bruder, dein Vater!“
[89.18] Bischof Martin erkennt nun in der Fülle Mich den Herrn und fällt auf sein Gesicht nieder vor Mir und spricht: „O Herr, o Gott, o heiliger Vater! Wo soll ich anfangen, Dich zu loben und zu preisen ohne Maß und Ziel, und wo und wann enden?! O Du heiligster Vater, wie endlos groß ist Deine Liebe und welch unergründliche Tiefen aller Erbarmung müssen in Dir vorhanden sein, dass Du Sündern, wie ich einer war und es noch bin, so endlos gnädig sein kannst!
[89.19] O Du heiliger, guter Vater Du, ich möchte nun nahe vergehen vor Schande darum, dass ich Dich nicht erkannte, als ich in Deinem ewigen Vaterhaus mit Petrus wohnte und wenig achtete Deiner Worte, die nichts als pur Liebe waren! Nun freilich, da mein Herz Dich erkannte, möchte ich vergehen vor Liebe, aber zugleich auch wohl vor Schande! O stärke mich, dass mein sündig Herz Deine heiligste Nähe zu ertragen vermag!“
Kein Kommentar bisher