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69. Martin und Borem beobachten die erste Prüfungsszene der Minoriten und Jesuiten

[69.1] [Bischof Martin:] „Aber nun bin ich selbst neugierig, wie und wo die Prüfungen dieser sozusagen tausend Mann hohen Gesellschaft beginnen werden. Hier im Haus wird sich’s nicht tun, und außer demselben einen jeden auf einen anderen Ort stellen? Wir sind nur unser zwei – ich weiß wirklich nicht, wie sich diese Sache tun wird. Aus hundert Schafen, so neunundneunzig darunter gerecht sind, das eine verlorene suchen, das wäre nach meiner Meinung eben keine gar zu unausführbare Aufgabe. Aber hier handelt sich’s um tausend sozusagen rein verlorene Schafe, da wird es heißen, nicht nur einem, sondern tausend verirrten nachgehen. Höre, Freund, das wird eine höchst sonderbare, mir bis jetzt durchaus unbegreifliche Aufgabe sein!“

[69.2] Spricht Borem: „Freund und Bruder, lasse du solches Fragen gut sein! Denn siehe, bei Gott sind gar viele Dinge möglich, die dir jetzt noch als völlig unmöglich vorkommen. Diese alle werden hier in diesem Haus verbleiben und werden sichtlich keinen Fuß vor die Schwelle setzen. Und doch werden sie bei sich selbst in verschiedenste Gegenden versetzt werden, die mit ihrem Inneren auf ein Haar korrespondieren werden. Und so wir in ihre Sphäre treten werden, so werden wir ganz von ihnen gesehen werden, und sie werden mit uns gar wohl reden können. Werden wir uns aber außer ihrer Sphäre befinden, so werden sie uns nicht sehen. Wir aber werden sie dennoch wie jetzt vor uns haben und werden aus ihren Hinterhäuptern genauest erkennen, was sie tun und wie sie des Herrn Wege beobachten und wandeln.

[69.3] Siehe, sie alle sind nun ihrem Inwendigen nach schon lange dort, wo sie sein müssen, und wir sehen sie alle unverrückt an ihren Plätzen stehen und sich so gebärden, als führten sie Gespräche miteinander. Aber sie reden nicht miteinander, denn sie sehen sich nun untereinander ebenso wenig, als sie uns sehen.

[69.4] Siehe, nun werden sie geordnet in eine Reihe, dass wir sie leicht übersehen werden. Aber sie merken davon ebenso wenig, als ein Festschlafender, so er samt seinem Bett in ein anderes Zimmer getragen wird. Nun sind sie schon in Reihen geordnet, so, dass wir eines jeden Hinterhaupt beobachten können. Komm hier zu diesem Minoriten und siehe, was er tut!“

[69.5] Bischof Martin tritt nun hinter den Minoriten und sieht durch dessen Hinterhaupt wie bei einem sogenannten Diorama durch das Vergrößerungsglas. Da erschaut er eine gar wunderherrliche Gegend und ihn selber, den Minoriten selbst, wie dieser von einer ganzen Gruppe Evas umzüngelt ist, sich aber von ihnen nicht beirren lässt, sondern sie nur belehrt und sein Auge einem hellen Stern, der im ewigen Osten aufgeht, unverwandt zuwendet.

[69.6] Spricht Borem: „Siehe, der ist schon gerettet! Und da siehe weiter, mit ihm noch eine Menge! Aber nun gehen wir weiter und schauen, wie es mit den Jesuiten aussieht!“

[69.7] Beide bewegen sich nun hinter die Reihe der Jesuiten und besichtigen deren Hinterhaupt. Was erschauen sie aber hier? Bei dreißig dieser Mönche balgen sich um eine ganze Legion ganz nackter Dirnen und können sich nicht sattsam befleischlustigen. Die Stärkeren ziehen die Üppigsten an sich und lassen den Schwächeren die weniger Üppigen über. Das ärgert die Schwächeren ganz gewaltig, darum sie sich auch von diesen ihren stärkeren Kollegen zu entfernen beginnen, um gegen diese eine Rächerschar zu sammeln, sie dann anzugreifen und allergrausamst zu züchtigen. Auch die Menge der schwächeren und weniger üppigen Dirnen rottet sich gegen die üppigeren und wollen ihnen ihre größere Üppigkeit mit der Schärfe aller ihrer Nägel auf das Energischste herunterkratzen.

[69.8] Bischof Martin betrachtet diese Szenen ganz stumm, teils vor Verwunderung und teils vor heimlichem Ärger, und weiß nicht, was er dazu sagen soll.

[69.9] Borem merkt das wohl und spricht zum Bischof Martin: „Bruder, wie kommt dir dieser Anblick vor, was sagst du dazu?“

[69.10] Spricht Bischof Martin: „O du mein liebster Freund und Bruder! Nein, das hätte ich von diesen scheinheiligen Lumpen denn doch nicht geglaubt. Die Kerle treiben es ja ärger als alle Hunde und Affen auf der Erde. Bei meinem armseligen Leben, da dürfte ich wahrlich nicht deine Macht und Weisheit haben und dies mein Gefühl dazu! Ich ließe sogleich wenigstens eine Million Blitze unter sie fahren. Wie diese Kerle nach so einem Manöver aussehen würden, für das gäbe es sicher kein hinreichend elendes Bild, durch das sie ganz getroffen vorgestellt werden könnten!

[69.11] O ihr allerabgefeimtesten Lumpen! Nein, aber ich bitte dich, Bruder, da sehe hin! Da sehe ich nun gerade den Lumpen, der in China ob Verrats zwischen zwei Steinplatten ist verbrannt geworden, wie er eben die schöne Chinesin nun auf das Entsetzlichste misshandelt! Sieh, sieh, wie er wie ein Geier die Arme zerfleischt! Ah, so was ist ja im höchsten Grad empörend! Das müssen wir denn bei Gott ja doch nicht angehen lassen!“

[69.12] Spricht Borem: „Mein Freund, das ist erst der Anfang; lassen wir es nur gehen, wie es nun geht! Es wird sich das Rad bald wenden. Sieh, diese Chinesin entfleucht nun und wird bald zu einem mächtigeren Regiment stoßen, das sich ihrer annehmen wird, und wird eine ganz entsetzliche Rache nehmen an diesem rachsüchtigsten Jesuiten. Da sehe, dort aus jener Berghöhle, vor der sie nun steht und schreit, steigen schon eine Menge Ungeheuer allergrässlichster Art! Sieh ihrer eine Unzahl! Sie teilen sich und umzingeln nach allen Seiten unsere Jesuitenschar. Diese merken noch nicht, was ihnen bevorsteht. Aber nun gebe Acht, die Ungeheuer haben den Kreis geschlossen. Die Chinesin, noch mit ganz zerrissener und zerfetzter Haut und mit einem Herrscherstab in der Hand, naht sich dem Jesuitenhaufen, der sich noch mit den nackten Dirnen beschäftigt. Nun gebe Acht und sage mir, was du nun sogleich erschauen wirst!“

[69.13] Bischof Martin sieht nun eine kurze Zeit hin, fährt dann förmlich zurück und spricht ganz ergriffen: „Ah, ah, das ist ja erschrecklich, ja, das ist entsetzlich, entsetzlich, entsetzlich! Sieh, diese Chinesin trat gleich einer Furie wie ganz glühend vor unseren Jesuiten. Und so viel ich aus ihrer rein höllischen Gebärde entnehmen konnte, so sprach sie: ‚Kennst du mich, Elender?‘ Der Jesuit machte ein erbostes, trotziges Gesicht und sprach: ‚Ja, Elendeste! Mein Fluch soll deiner ewig nimmer vergessen!‘ Er gebietet darauf seinen Kollegen, diese Elendeste noch einmal zu ergreifen und sie in Stücke zu zerreißen. Aber in diesem Augenblick schreit sie: ‚Zurück, ihr verfluchtesten Verführer aller Welt! Euer Maß ist voll! Nun kommt meine Rache über euch!‘ In diesem Augenblick stürzen eine ganze Legion großer, scheußlichster Ungeheuer auf unsere Jesuiten los, ergreifen sie und zerreißen sie in kleine Stücke. Die Chinesin nimmt nun das Haupt unseres Jesuiten, der sie ehedem zerfleischt hatte, und schleudert es in einen Abgrund, aus dem nun helle Flammen emporschlagen, und schleudert nun auch die übrigen Reste in denselben Abgrund. Ah, wenn das nicht mehr als Hölle ist, so weiß ich wirklich nicht, unter welchem noch grässlicheren Bild ich mir dieselbe vorstellen soll! Höre, sollen wir da etwa auch noch nicht intervenieren?“

[69.14] Spricht der Borem: „O nein, da handelt der Herr Selbst; wir wären da viel zu ohnmächtig! Siehe aber, solange sie hier noch vor uns in Reih und Glied stehen, so lange sind sie noch immer nicht für verloren anzusehen. Aber so etwa welche aus dieser Reihe entschwinden möchten, höre, mit diesen würden wir dann wenig mehr zu tun bekommen. Aber so viel sage ich dir: gar zu weit sind diese von der Hölle eben nicht mehr, denn das alles, was du nun geschaut hast, geht nun nur in den Gemütern dieser Patres vor und nicht in der Wirklichkeit, aber so je ein Gemüt so sich gestaltet und gebärdet, da ist freilich die allertraurigste Wirklichkeit keineswegs mehr fern.

[69.15] Siehe, was du nun gesehen, geht im Herzen dieser Patres vor. Der Herr aber bewirkt es, dass wir so ganz still das alles bildlich und dramatisch vor uns erschauen. Wir haben nun gesehen, welchen Sinnes und Willens diese Wesen sind, und werden nun auch ersehen, ob sie etwa doch, der ihnen gegebenen Lehre eingedenk, diese arge Sinnes- und Willensart nicht ändern werden zufolge dieser Demonstration, die ihnen der Herr Selbst in ihr Gemüt wie eine Gegenrache eingegossen hat.

[69.16] Die Zerreißung durch die Ungeheuer stellt zwar eine starke Demütigung vor, durch die sie sicher zu irgendeiner Raison gebracht werden. Wir werden sie nun aber bald wieder als ganze Wesen auftreten sehen, und da wird sich’s dann sogleich zeigen, welchen Effekt diese Demonstration auf sie gemacht hat.

[69.17] Da, sehe nun nur wieder hinein, du wirst die ganze Jesuitenschar wieder aus demselben Loch emporsteigen sehen, in das früher die Chinesin bloß nur den einen zerstückelten Jesuiten hinabgeschleudert hat.“

[69.18] Bischof Martin richtet nun wieder sein Augenmerk auf diese Szene und spricht: „Richtig, da kommen die Kerls wieder ganz wohlgestaltig zurück; bin nun doch recht neugierig, was sie nun anfangen werden! Aha, aha, schau, schau, schau; sie fangen an, nun etwas bessere Saiten aufzuziehen! No, vielleicht wird sich’s doch machen! Ich bemerke sogar, wie einige aus der Schar Miene machen, als wollten sie gar zu beten anfangen, denn sie machen ganz fromme Mienen. Ich wäre wirklich von ganzem Herzen froh, so sie sich alle bessern möchten!“

[69.19] Spricht Borem: „Was bei den Menschen unmöglich scheint, das ist bei Gott gar wohl möglich! Die erste Prüfung wäre ganz leidendlich ausgefallen, aber nun kommt eine andere. Wir werden da sehen, wie sie diese bestehen werden. Ich sage dir, diese wird viel ärger sein denn die erste! Sehe nun wieder hin, der zweite Akt wird sogleich seinen Anfang nehmen.“

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