[68.1] Als nun beide ins Haus kommen, geht ihnen sogleich der Minoriten einer, der schon früher so recht verständig geredet, entgegen und fragt den Martin, sagend: „O lieber Freund und Bruder, was doch gab es draußen, darum du ehe so eilends hinausmusstest? Siehe, wir alle waren darob in großer Bestürzung und Sorge wegen deiner, indem wir meinten, du wärst etwa unseretwegen zur Rechenschaft gezogen, und dir sei darum vielleicht etwas Übles begegnet. O sage uns, wie es dir erging!“
[68.2] Martin lächelt und spricht: „O liebe Freunde und Brüder, seid meinetwegen gänzlich unbesorgt! Seht, diesen lieben Freund und Bruder hat mir der Herr euret- und meinetwegen zugesandt, auf dass er mir helfe, euch alle auf den rechten Weg zu bringen! Und darum einzig und allein bin ich hinaus berufen worden.
[68.3] Ihr alle aber müsst nun diesen Freund des Herrn willigst anhören und euch allzeit nach seinen Worten richten, so wird euer und vielleicht auch mein Los bald in Kürze ein besseres und freieres werden. Denn seht, ich bin auch noch lange kein vollendet seliger Geist, sondern bin nur am Weg dahin, der vollkommenen Seligkeit durch die Gnade des Herrn teilhaftig zu werden!
[68.4] Befleißigt euch nun alle dieser Gnade ehestmöglich teilhaftig zu werden und es kann sehr leicht sein, dass wir dann samt und sämtlich unseren Weg zu gleicher Weile in das Reich des Gotteslichtes nehmen werden!“
[68.5] Spricht der Minorit wieder: „Ja, Bruder, wir alle versprechen es dir und diesem deinem Freund, uns in allem streng nach der Vorschrift zu verhalten, die ihr uns geben werdet, um nur der allergeringsten Gnade des Herrn teilhaftig zu werden!“
[68.6] Spricht der Borem: „Ja, liebe Brüder und Schwestern, haltet dies euer Versprechen aus dem Grund eures Herzens! Liebt Jesus Christus, den Gekreuzigten, über alles, darum Er ist unser aller einiger, liebevollster und heiligster Vater! Sucht allein nur Ihn und Seine Liebe und hängt an nichts eure Herzen denn allein nur an Ihn, so werdet ihr viel eher, als ihr es gedenkt, in Seiner ewigen Liebewohnung euch befinden! Aber alle eure sinnlichen Weltanhängsel müsst ihr aus euren Herzen verbannen, ansonst es nicht möglich wäre, euch in die ewige Wohnung des heiligen Vaters zu bringen. Merkt aber nun wohl, was ich euch sagen werde:
[68.7] Seht, ihr alle hattet auf der Welt von Gott und vom Himmel, wie überhaupt vom Leben der Seele und ihrem Befinden nach dem Tod des Leibes, zwar zwei verschiedene, aber durchgehends auch ganz grundfalsche Begriffe. Ihr habt euch bisher schon überzeugen können, dass sich hier euer irdischer Glaube in nichts bestätigt erwiesen hat; ihr habt kein Fegefeuer, ja sogar keine Hölle, wie auch keinen Himmel und keine beflügelten Engel gefunden. Wie ihr aber das alles nicht gefunden habt, so werdet ihr auch alles andere ewig nicht finden, an was alles ihr als römische Katholiken geglaubt habt.
[68.8] Auch alle die Gebetshilfe von den Gemeinden und von den Priestern, auf die ihr große Glaubensstücke gehalten habt, hat hier nicht den allergeringsten Wert. Denn niemand kommt hier durch ein unvermitteltes Erbarmen zum Herrn, da der Herr ohnehin von der allerhöchsten Erbarmung ist, und es eine allergrößte, sündhaftigste Torheit wäre, den allerbarmherzigsten, liebevollsten, allerbesten Vater zur Barmherzigkeit bewegen zu wollen.
[68.9] Daher muss hier ein jeder selbst allerernstlichst Hand an sein eigenes Werk legen, ansonsten es unmöglich wäre, zu Gott, dem Herrn aller ewigen, unendlichen Herrlichkeit zu gelangen. Seht, ich bin nun selbst ein großer Engel des Herrn. Er ruft mich nicht anders als: ‚Mein Bruder! Wie endlos lieb habe Ich dich!‘ Und seht, so ich auch hinginge und möchte bitten für euch eine Ewigkeit, so würde euch das dennoch nichts nützen. Denn jeder muss selbst tun aus seiner Liebe heraus, was da steht in seiner Kraft, ansonsten er nie zu der wahren Freiheit seines Geistes gelangen kann. Gott ist allmächtig wohl, aber Seine Allmacht macht niemanden frei, da eben sie es ist, aus der wir durch unseren freien Willen und durch die Liebe zu Gott frei gemacht werden müssen, ansonsten wir nichts als Maschinen und Automaten dieser Allmacht Gottes wären.
[68.10] Der Herr aber hat darum aus Seiner endlosesten Weisheit geordnete Wege gestellt, die wir wandeln müssen, um zu dieser göttlichen Freiheit zu gelangen. Diese Wege aber waren euch bis jetzt unbekannt, ich aber werde sie euch nun bekanntgeben. Daher müsst ihr wohl darauf achten und euch genau – aber freiwillig – auf diesen Wegen halten, so werdet ihr dahin gelangen, wohin zu gelangen ein jeder von Gott geschaffene Geist berufen ist.
[68.11] Es wird euch von nun an alle erdenkliche Freiheit gegeben werden. Was ihr immer wünschen und wollen werdet, wird euch werden. Aber diese Freiheit ist noch keine Freiheit, sondern nur eine Prüfung, die ihr zu bestehen, aber ja nicht zu missbrauchen habt!
[68.12] Es werden euch tausende Evas den versuchenden Apfel hinhalten, aber ihr dürft ihn aus Liebe zum Herrn nicht anrühren!
[68.13] Ihr werdet verleumdet und verspottet werden, aber da dürft ihr euch nie erzürnen oder an irgendeine böse Vergeltung denken!
[68.14] Man wird euch verfolgen, wird euch berauben, und misshandeln sogar. Aber eure Gegenwehr sei nichts als Liebe, obschon euch alle Mittel zu Gebot stehen werden, durch die ihr euch zur Genüge rächen könntet!
[68.15] Gedenkt allzeit des Herrn und Seines Evangeliums, so werdet ihr eure Wohnung für die Ewigkeit auf festem Grund bauen, dass sie nimmer erschüttert wird!
[68.16] Ich sage euch die ewige Wahrheit aus Gott, dem Herrn alles Seins und Lebens. Wer da nicht erfüllt das Wort Gottes in sich tatsächlich, der kann in dessen Reich nicht eingehen!
[68.17] Jeder muss der Demut engste Pforte passieren und muss dem Herrn alles anheimstellen. Nichts als die alleinige Liebe, mit der tiefsten Demut gepaart, darf uns bleiben! Uns darf nichts beleidigen. Wir dürfen nie denken und sagen, dies und jenes gebühre uns irgend mit Recht. Denn wir alle haben nur ein Recht, nämlich das Recht der Liebe und der Demut. Alles andere ist ganz allein des Herrn!
[68.18] Wie aber der Herr Selbst Sich bis auf den äußersten Punkt gedemütigt hat, also müssen auch wir es tun, so wir dahin kommen wollen, wo Er ist!
[68.19] Wer dir eine Ohrfeige gibt, dem erwidere sie nicht, sondern halte ihm noch die andere Wange hin, auf dass Friede und Einigkeit herrsche unter euch! Wer von dir den Mantel verlangt, dem gebe auch den Rock dazu! Wer dich zu einer Stunde Geleit nötigt, mit dem gehe zwei Stunden, auf dass du ihm Liebe erweisest im Vollmaß! Den Feind segne, und bete für die, so dich verfluchen! Nie vergelte jemand Böses mit Bösem und Schlechtes mit Schlechtem, sondern tut denen Gutes, die euch hassen – so werdet ihr wahrhaft Kinder Gottes sein!
[68.20] Solange ihr aber euer Recht irgend anderwärts sucht als allein nur im Wort Gottes, solange ihr noch der Beleidigung Stachel in euch tragt, ja, solange ihr der Meinung seid, es geschehe euch in diesem oder jenem ein Unrecht – so lange auch seid ihr noch Kinder der Hölle und des Herrn Gnade ist nicht in euch.
[68.21] Gottes Kinder müssen alles ertragen können, alles erdulden! Ihre Kraft sei allein die Liebe zu Gott und die Liebe zu ihren Brüdern, ob sie gut oder böse sind.
[68.22] Wann sie darinnen fest sind, dann auch sind sie vollkommen frei und fähig, in das Reich Gottes aufgenommen zu werden.
[68.23] Ich weiß aber, dass ihr alle Priester wart und Nonnen der Gemeinde Roms, die da ist die allerfinsterste. Ich weiß auch, dass sich einige aus euch darauf heimlich noch viel zugutetun. Aber da sage ich euch, daran gedenke nur niemand aus euch, was er auf der Erde war und getan hat! Denn so jemand daran denkt, dass er Gutes getan hat, so wird der Herr auch daran gedenken, wie viel Böses jemand aus euch getan hat, und wird ihn richten nach seinen Werken! Wer aber vom Herrn gerichtet wird, der wird gerichtet zum Tod und nicht zum Leben; denn das Gericht ist der Tod der Seele in der ewigen Knechtschaft ihres Geistes!
[68.24] So aber der Herr spricht: ‚Wenn ihr alles getan habt, so bekennt, dass ihr nutzlose Knechte wart!‘ Um wie viel mehr müsst ihr an euch das bekennen, die ihr doch alle nie das Evangelium nur im Geringsten in euch, an euch und noch weniger an euren Brüdern erfüllt habt!
[68.25] Also habe ich nun zu euch geredet im Namen des Herrn und habe kein Wort dazugesetzt und keines weggenommen; sondern wie ich es empfangen habe vom Herrn, also habe ich es euch auch getreu kundgetan. Nun aber ist es an euch, das alles in den besten Vollzug zu bringen; denn von nun an könnt ihr euch nimmer entschuldigen, als hättet ihr es nie gehört, so ihr wegen starrsinniger Nichtbefolgung dem Gericht verfallen würdet!
[68.26] So aber jemand guten Willens ist und fällt ob angestammter Schwäche, da bin ich und dieser Bruder da, im Namen des Herrn jedermann aufzuhelfen!
[68.27] Ihr seht nun, dass von euch allen vorerst bloß nur der gute Wille gefordert wird, dann erst das Werk.
[68.28] Seid also alle voll des guten Willens zum Guten, so wird man es mit dem Werk so genau nicht nehmen, da ein guter Wille schon als ein Werk des Geistes zu betrachten und zu nehmen ist.
[68.29] Aber wehe jedem aus euch, der da wäre in sich geheim hinterlistigen, bösen Willens und täte nur äußerlich, als hätte er einen guten Willen! Ich sage euch aus der Kraft des Herrn, die mich nun durchweht wie ein mächtigster Orkan einen Wald: ein solcher würde jählings zur Hölle getrieben werden und geworfen in den Pfuhl des ewigen Verderbens – wie da ein Stein fällt vom Himmel in den Abgrund des Meeres, von wo aus er nicht wieder genommen wird, sondern liegenbleibt im Pfuhl und Schlamm des Gerichtes!
[68.30] Nun wisst ihr, was ihr zu tun habt, um als wahre Kinder des Herrn in Sein Reich zu gelangen. Tut alle danach, so werdet ihr leben!
[68.31] Ich und dieser euer erster Freund aber werden, wennschon nicht allzeit sichtbar, hinter euch uns befinden und werden euch aufhelfen, so jemand aus euch fiele in seiner Schwäche. Aber der da fiele in seiner Bosheit, dem wird nicht geholfen werden, außer durch Gleiches mit Gleichem! Fragt aber nicht, wo wird der Ort solcher unserer Prüfung sein? Ich sage euch: Hie und da, und wenn ihr es am wenigsten gedenkt, auf dass eure Freiheit nicht gestört werde! Der Herr sei mit euch und mit uns! Amen!“
[68.32] Spricht Bischof Martin: „Bruder, du hast hier wirklich rein aus dem Herrn geredet, und wahr ist alles auf ein Haar. Aber mich hat es auch ganz sonderlich gehabt! Denn ich selbst habe noch sehr viele Punkte darinnen gefunden, die mich sehr nahe angehen!“
[68.33] Spricht Borem: „So wird es dir sicher keinen Schaden bringen, so du sie auch beachtest! Denn zu der schönen Merkurianerin möchte ich dich ganz allein noch nicht lassen! Verstehst mich, Bruder?“
[68.34] Spricht Bischof Martin: „Hast recht, hast recht! Weißt, so’n bisschen Vieh bin ich noch immer; aber ich hoffe, nun wird sich’s wohl ändern!“
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