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21. Philosophisch dumme Ausrede Martins. Ein liebfreundlicher und göttlich ernster Gewissensspiegel

[21.1] Spricht der Bischof Martin: „Gott lieben über alles und den Nächsten wie sich selbst wäre schon recht, wenn man nur wüsste, wie man das anstellen soll! Denn Gott sollte man mit der reinsten Liebe lieben, desgleichen womöglich auch den Nächsten; aber woher sollte unsereiner eine solche Liebe nehmen, wodurch sie in sich erwerben?

[21.2] Ich kenne wohl das Gefühl der Freundschaft und kenne auch die Liebe zum weiblichen Geschlecht; auch kenne ich die interessierte Kinderliebe zu ihren Eltern; nur die Liebe der Eltern zu ihren Kindern kenne ich nicht! Kann aber die Gottliebe einer von diesen erwähnten Liebesarten gleichen, die alle auf den unlautersten Füßen basiert sind, indem sie auf lauter Geschöpfe gerichtet sind?

[21.3] Ich behaupte sogar: Der Mensch als ein Geschöpf kann Gott als seinen Schöpfer ebenso wenig lieben als ein Uhrwerk seinen Urheber! Denn dazu gehörte die vollkommenste göttliche Freiheit, der sich höchstens die freiesten Erzengel rühmen können, um Gott Seiner Heiligkeit wegen würdig lieben zu können! Wo aber ist der auf der untersten, unheiligsten Stufe stehende Mensch und wo die vollste göttliche Freiheit?

[21.4] Es müsste nur Gott gefallen, Sich von Seinen Geschöpfen so lieben zu lassen, wie sie sich untereinander lieben: wie die Kinder ihre Eltern oder wie ein Jüngling seine schöne Maid oder wie ein rechter Bruder den anderen oder auch wie ein armer Mensch seinen höchst uninteressierten Wohltäter oder wie ein Regent seinen Thron oder wie ein jeder Mensch sich selbst!

[21.5] Aber dazu fehlt das sichtbare Objekt, ja sogar die Fähigkeit, sich dies erhabenste Objekt irgend auf eine Art vorstellen zu können. Wie sieht Gott aus? Wer von den Menschen hat Gott je gesehen? Wer Ihn gesprochen? Wie aber kann man ein Wesen lieben, von dem man sich aber auch nicht den allerleisesten Begriff machen kann! Ein Wesen, das da nicht einmal historisch, sondern lediglich nur mythisch existiert unter allerlei mystisch poetischen Ausschmückungen, welche mit einer altjüdischen scharfen Moral allenthalben unterspickt sind!“

[21.6] Nun rede Ich: „Freund, Ich sage dir, mit diesem deinem unsinnigen Gewäsch könntest du wohl nie auch nur einen Faden deines schmutzigsten Gewandes reinwaschen! Du hattest auf der Welt Objekte genug! Da waren Arme in schwerer Menge, Witwen, Waisen, eine Menge anderer Notleidender! Warum liebtest du sie nicht – und hattest doch Liebe genug, dich selbst über alles zu lieben!

[21.7] Deine eigenen Eltern liebtest du nur der Gaben wegen; gaben sie dir aber zu wenig, so wünschtest du ihnen nichts sehnlicher als den Tod, um sie dann zu beerben!

[21.8] Deine untergeordneten Pfarrer liebtest du, so sie dir fleißig reichliche Opfer einsandten; blieben diese aus, da warst du bald ihr unerbittlichster Tyrann!

[21.9] Die reichen und viel opfernden Schafe segnetest du; die armen und daher nur wenig oder nichts opfern könnenden aber wurden von dir mit der Hölle abgespeist.

[21.10] Die Witwen liebtest du wohl, so sie noch jung, schön und reich waren und sich zu allem herbeiließen, was dir angenehm war, also auch üppige, honette weibliche Waisen von sechzehn bis zwanzig Jahren!

[21.11] Siehe, bei der Liebe so gestalteter Objekte ist es wohl freilich unmöglich, sich zur geistigen Anschauung und Liebe des allerhöchsten und aller Liebe würdigsten Objektes zu erheben!

[21.12] Hattest du doch das Evangelium, die erhabenste Lehre Jesu, des Christ’s, als die Hauptlebensschule – warum versuchtest du denn nicht wenigstens einmal in deinem Leben, nur einen Text praktisch anzuwenden, auf dass du dann erfahren hättest, von wem diese Lehre ist?

[21.13] Heißt es nicht darinnen: ‚Wer Mein Wort hört und danach lebt, der ist es, der Mich liebt; zu dem werde Ich kommen und werde Mich ihm Selbst offenbaren!‘

[21.14] Siehe, hättest du je nur einen Text an dir praktisch versucht, so würdest du dich wohl überzeugt haben, dass fürs Erste die Lehre von Gott ist. Und fürs Zweite wäre dir auch dadurch die Objektivität Gottes beschaulich geworden wie vielen Tausenden, die viel geringere Menschen waren als du!

[21.15] So steht auch geschrieben: ‚Suchet, so werdet ihr’s finden; bittet, so wird euch’s gegeben, und klopfet an, so wird’s euch aufgetan!‘ – Tatst du je etwas davon?

[21.16] Siehe, weil du von allem dem nie etwas getan hast, so konntest du von [über] Gott auch nie zu einer geistigen Anschauung gelangen, und es ist daher höchst widersinnig von dir gesprochen, so du darum für Gott keine Liebe findest, weil Er dir nie zu einem Objekt geworden ist – da Er dir doch zum Objekt hätte werden müssen, so du nur im Geringsten für diesen Zweck je etwas getan hättest!

[21.17] Ich frage dich aber auch, unter welchem Bild hättest du Gott wohl mit deiner schmutzigsten Liebe ergreifen können, das deinem steinernen Herzen einige Funken zu entlocken hätte vermögen zur Belebung eben solchen Gottbildes in dir? Siehe, du schweigst; Ich aber will es dir zeigen!

[21.18] Höre: Gott müsste entweder des schönsten weiblichen Geschlechts sein, dir die größte Macht und den größten Glanz verleihen und daneben dir noch gestatten, die schönsten Mädchen mit nie schwächer werdender Manneskraft zu beschlafen; und dir überhaupt alles gönnen, was dir deine Einbildungskraft als angenehm darstellte, ja womöglich dir am Ende sogar die Gottwesenheit rein abtreten, auf dass du dann mit der ganzen unendlichen Schöpfung nach deinem Belieben sozusagen ‚Schindluder treiben‘ könntest!

[21.19] Siehe, nur unter solcher Objektivität wäre dir die Gottheit liebenswert. Aber unter dem Bild des armen gekreuzigten Jesus war dir der Begriff Gottheit unerträglich, widerlich, dich anekelnd, ja verächtlich sogar!

[21.20] Bei so bewandten Umständen musst du nun freilich fragen, wie man Gott lieben soll, und zwar mit reinster Gottes würdiger Liebe! Der Grund davon aber ist – wie gezeigt – kein anderer denn der: Du wolltest Gott nie erkennen und also auch nie lieben! Darum tatst du auch nichts, aus Furcht, es möchte denn doch ein besserer Geist in dich fahren, der dich zur Demut, zur Nächstenliebe und daraus zur wahren Erkenntnis und Liebe Gottes geleitet hätte!

[21.21] Siehe, das ist der eigentliche Grund, demzufolge du nun fragst, wie man Gott lieben solle und könne! So du aber schon deine Brüder nicht liebst, die du siehst und auch nicht lieben magst, wie solltest du Gott lieben, den du noch nicht siehst, weil du Ihn nicht sehen willst!

[21.22] Siehe, wir beide sind dir nun die größten Freunde und Brüder, und du verachtest uns fortwährend in deinem Herzen, darum wir dir helfen wollen und dich durchschauen auf ein Haar! Da, da wende dein Herz! Fange an, uns als deine Wohltäter zu lieben, so wirst du auch ohne deine dümmste Philosophie den Weg zum Herzen Gottes finden, wie es recht ist und wie es sich geziemt! Es sei!“

[21.23] Spricht wieder Bischof Martin: „Ja, ja, mein Gott, ja, Du hast schon recht, ich liebe euch und schätze euch überaus ob eurer Weisheit und ob der damit vereinten Kraft, Liebe, Geduld und Ausharrung! Möchtest Du, mein liebster Freund, mit mir aber dennoch so reden, dass ich aus Deiner Rede nicht allzeit meine Fluchwürdigkeit in aller Fülle und Schwere erschauete, so wäre ich ohnehin schon lange förmlich verliebt in Dich! Aber eben diese Deine durchdringlichste Wortschärfe erfüllt mich eher mit einer Art geheimer Furcht als mit Liebe zu Dir und Deinem Freund Petrus! Rede sonach schonender mit mir, und ich werde Dich dann aus allen meinen Kräften lieben!“

[21.24] Rede Ich: „Freund, was verlangst du von Mir, das Ich dir nicht angedeihen ließe im höchsten Vollmaß, ohne von dir dazu aufgefordert zu werden?! Meinst du denn, dass da nur ein Schmeichelredner ein wahrer Freund ist oder einer, der sich aus lauter Ehrfurcht nicht getraut, die Wahrheit jemandem unters Gesicht zu bringen? Oh, da bist du in einer großen Irre!

[21.25] Du bist einer, an dem kein gutes Härchen irgendwo steht! Kein edles Werk der Liebe ziert dich! Hast du je etwas getan, das vor der Welt wie liebedel schien, so war es aber dennoch eitel Böses. Denn all dein Tun war nichts als eine arge Politik, hinter der irgendein geheimer herrschsüchtiger Plan verborgen lag!

[21.26] Gabst du irgendjemandem ein karges Almosen, so musste davon nahe der ganze Erdkreis Notiz nehmen. Sage, war das evangelisch, wo die Rechte nicht wissen soll, was die Linke tut?

[21.27] Gabst du jemandem einen sogenannten kirchlichen guten Rat, so war der auch allzeit so gestellt, dass am Ende dessen Wasser dennoch auf deine Mühle laufen musste.

[21.28] Zeigtest du dich herablassend, so geschah es nur, um den unten Stehenden so recht anschaulichst deine Höhe einzuprägen.

[21.29] War sanft der Ton deiner Rede, so wolltest du damit das erreichen, was da zu erreichen suchen die Sirenen mit ihrem Gesang und die Hyäne mit ihrer Weinerei hinter einem Busch! Du warst fortwährend ein gierigstes Raubtier!

[21.30] Kurz und gut, wie schon gesagt, an dir war auch nicht ein gutes Haar, und du befandest dich schon über Hals und Kopf vollkommen in der Hölle. Gott der Herr aber erbarmte sich deiner, ergriff dich und will dich frei machen von all den Höllenbanden! Meinst du wohl, dass solches möglich sein könne, ohne dir zu zeigen, wie du beschaffen bist?!

[21.31] Oder hast du auf der Erde nie gesehen, was die Uhrmacher mit einer verdorbenen Uhr machen, so diese wieder gut und brauchbar werden soll? Siehe, sie zerlegen sie in die kleinsten Teile, aus denen sie zusammengesetzt ist, untersuchen da jedes Stückchen sorgfältigst und reinigen es, machen das Krumme gerade, feilen das Raue hinweg und ergänzen, wo irgendetwas fehlt, und setzen am Ende das Werk wieder zusammen, auf dass es wieder wirkend entspreche seiner Bestimmung! Meinst du wohl, dass solch eine ganz verdorbene Uhr zum Gehen kommen möchte, so der Uhrmacher bloß ihr Äußeres recht blank putzte, das Innere aber beließe, wie es ist?

[21.32] Also aber bist auch du ein Uhrwerk, in dem auch nicht eines Rades Zahn in der Ordnung ist! Sollst du gebessert werden, so musst du auch zerlegt werden in allem deinem verdorbenen Wesen! Es muss alles heraus ans Licht der ewigen unbestechlichsten Wahrheit, auf dass du dich selbst beschauen kannst und sehen, was alles in und an dir vollends verdorben ist! (2. Kor. 5,10)

[21.33] Hast du erst alle deine Gebrechen erkannt, dann erst können die Raspel, die Feile, die Zange und endlich auch eine Putz- und Polierbürste angelegt werden, um aus dir wieder einen Menschen in der Ordnung Gottes zu gestalten, und das einen ganz neuen Menschen; denn dieser dein jetziger Mensch, wie du selbst es nun bist, ist durchaus völlig unbrauchbar!

[21.34] So Ich nun aber alles das an dir tue, sage: Verdiene Ich da nicht deine Liebe?!“

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