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165. Zwiegespräch zwischen dem Weisen und Johannes. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf

[165.1] Spricht darauf Johannes: „Lieber Freund, ich habe den Sinn deiner Rede genau erwogen und fand, dass er in sich selbst betrachtet ganz richtig ist. Nur muss ich dir dabei das bemerken, dass du hier die beiden Extreme zu schroff behandelt hast, und hast eine zu scharfe Grenzlinie gezogen.

[165.2] Es ist allerdings wahr, dass der Schöpfer nie Geschöpf und das Geschöpf nie der Schöpfer werden kann. Aber nichtsdestoweniger ist dabei der Schöpfer in irgendeinem Nachteil, und ebenso wenig in irgendeinem besonderen Vorteil gegen das Geschöpf.

[165.3] Denn fürs Erste hat Er zur Hervorbringung des Geschöpfes durchaus keine andere Materie als Sich Selbst, d. h. Er muss das Geschöpf aus derselben Substanz bilden, als aus welcher Er Selbst besteht von Ewigkeit. Fürs Zweite aber muss Er dann dieses Geschöpf sogestaltig auch fortan aus Sich Selbst erhalten, während das Geschöpf seinem Schöpfer gegenüber nichts zu tun hat, als bloß nur zu sein.

[165.4] Und so es also ist, wie es der Schöpfer eigentlich haben will, nämlich in der fürs Geschöpf bestimmten Ordnung, so kann das Geschöpf ebenfalls in die Vollkommenheit seines Schöpfers eingehen. Es kann die Kindschaft Gottes erlangen und dann mit Ihm sozusagen in einem und demselben Haus wohnen und alle Seine Rechte gebrauchen und genießen! Und ich meine, dass sich dann in diesem Fall der Schöpfer wie das Geschöpf gegenseitig sehr wenig werden zugute zu halten haben.

[165.5] Solange Schöpfer und Geschöpf zur Folge der ihm erteilten moralischen Willensfreiheit eben im Wollen und Handeln sich einander gegenüberstehen, so lange freilich ist dein aufgestellter Grundsatz richtig. Denn die Priorität des Schöpfers kann da unmöglich je in einen Zweifel gezogen werden, weil sie wirklich eine unwidersprechliche Notwendigkeit ist.

[165.6] Aber so das Geschöpf durch Erkenntnis und tätigen Willen des geoffenbarten Willens des Schöpfers die Scheidewand selbst zerstört, dadurch den Schöpfer in sich selbst aufnimmt und auf die Weise vollends eins wird mit Ihm, da fragt sich dann:

[165.7] Wo ist der Schöpfer als ewig Einer und Derselbe mehr Schöpfer: in Sich oder im Geschöpf? Was ist hier älter: das Geschöpf als identisches Wesen mit und in dem Schöpfer – oder der Schöpfer als identisches Wesen im Geschöpf? Denn Er Selbst spricht: ‚Ihr seid in Mir und Ich in euch!‘

[165.8] In diesem Falle, der wahr und unleugbar ist, glaube und meine ich aus der Fülle meiner hellsten Anschauung, hast du, lieber Freund, deine Saiten etwas zu stark angezogen und wirst daher schon müssen mit dir etwas handeln lassen! Was meinst du in dieser Hinsicht?“

[165.9] Spricht der Weise: „Lieber Freund, ich sehe, dass du ungeheuer weise bist, und es lässt sich deinen aufgestellten Grundsätzen gegenüber nichts einwenden. Aber nur meine ich, dass das produktive Wesen dem Schöpfer gleichfort eigen bleibt: ob Er für Sich ganz isoliert dasteht, oder ob Er Seiner ausfließenden Wirkung zufolge Sein Geschöpf wie ein Gefäß mit Sich Selbst erfüllt; es versteht sich von selbst, nach dem Maße der dem Geschöpf erteilten Aufnahmefähigkeit.

[165.10] Denn dass das Geschöpf nie die ganze unendliche Fülle der Urgottheit wird in sich aufzunehmen imstande sein, darüber dürfte wohl kein Zweifel sein! Ich meine, die Beantwortung dieser Frage liegt schon im Begriff ‚Unendlichkeit‘, die nur wieder von derselben Unendlichkeit, nie aber von einer aus ihr genommenen Endlichkeit aufgenommen werden kann.

[165.11] Siehe, wir sehen von dieser unserer Welt eine Sonne, deren Größe der Größe unserer Welt, nach unseren Berechnungen, viele tausend mal tausend Male überlegen sein wird. Aber so ich gar oft beobachtet habe, wie selbst die kleinsten Tautröpfchen das Bild jener großen Welt in sich zwar gestaltlich, wie für das Volumen ihres Wesens hinreichend effektiv, also vollkommen aufnehmen, so unterliegt es sicher auch keinem Zweifel, dass wir Geschöpfe auf eine ähnliche Weise den Schöpfer in uns wohl aufzunehmen vermögen, insoweit Er von uns zu unserer Vollendung aufgenommen werden kann.

[165.12] Aber wie weit bleibt da das Sonnenbild im Tautropfen von der wirklichen Sonne zurück, und wie weit erst das Geschöpf mit seinem Schöpferbild hinter dem wirklichen Schöpfer!? Ich glaube, es dürfte sehr schwer eine Zahl zu ermitteln sein, durch die man angeben könnte, wie viele solcher Tautröpfchen dazu erforderlich wären, um nur das wahre Volumen jener Sonne darzustellen, die sich in ihnen wohl äonenmal abbildet!

[165.13] Und doch stehen sich hier nur zwei begrenzte Dinge gegeneinander! Wie aber wäre dann erst da eine alles ausgleichende Bestimmung möglich, wo sich die ewige Unendlichkeit und eine sicher kaum beachtbare zeitliche und räumliche Begrenztheit begegnen!?

[165.14] Es ist übrigens nicht in Abrede zu stellen, dass das schöpferische Wesen im Geschöpf identisch ist mit dem Schöpfer, wie auch umgekehrt; aber ich frage: in welcher Proportion?! Und diese Proportion muss doch auch in eine sehr große Beachtung gezogen werden, weil aus ihr nur zu klar hervorgeht, dass zwischen Schöpfer und Geschöpf trotz aller natürlichen und moralischen Identisierung dennoch eine solche Kluft für ewig stehen bleiben muss, weil sie weder von einer noch von der anderen Partei je völlig überschritten werden kann.

[165.15] Und so bleibe ich insoweit bei meinem Grundsatz stehen, insoweit die beiden Gegensätze nie vollkommen in eins zusammenfallen können! Will mich aber dadurch dennoch nicht gegen eine tiefere Belehrung verwahren, im Gegenteil: es wird mir jede tiefere Belehrung in dieser Sache im höchsten Grad willkommen sein, daher ich mich auch sehr freue, dich darüber weiter und sicher tiefer zu vernehmen!“

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Bischof Martin

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