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162. Vom wahren Glauben und von der Geistesfreiheit

[162.1] Der Weise legt nun alles von sich. Als er das Band samt dem Stab von sich wegwirft, da erst tritt der Petrus zu ihm hin und spricht:

[162.2] [Petrus:] „So, so ist es recht! Du tatst, was zu tun der Bruder Martin in unser aller Namen von dir verlangt hat, und bist uns dadurch ein neuer Bruder geworden. Es ist aber daher nun auch billig, dass auch wir tun, was du von uns verlangtest, nämlich dass wir dir kundtäten, wer und woher wir sind.

[162.3] Siehe, es ist nichts leichter, als das dir durch Worte zu sagen, was du von uns erfahren möchtest. Aber damit ist eigentlich noch gar nichts getan und dir wenig geholfen! Denn zu dem, was ich dir über uns kundgebe, gehört von dir ein unbedingter Glaube, d. i. eine willige, ungezweifelte Annahme dessen, was ich dir sage. Fehlt dir dieser Glaube, da nützt dir alles nichts, was ich dir auch immer sagen möchte!

[162.4] Du sagst freilich bei dir: ‚So Beweise dem Gesagten beigegeben werden, da will und kann ich ja alles glauben!‘. Aber dagegen muss ich dir freilich nur zu bestimmt bemerken, dass solch ein Glaube kein Glaube, sondern ein pures Wissen ist, durch das deinem inneren Wesen wenig oder nichts geholfen ist.

[162.5] Denn siehe, ein auf Beweise gegründetes Wissen ist kein freies Wissen mehr, sondern ein gerichtetes, und macht keinen Geist frei, sondern nimmt ihn ebenso oft mal gefangen, als wie viele Beweise für einen Glaubenssatz gegeben werden.

[162.6] Nur jener Glaube, der da gleich ist einem freien Gehorsam des Herzens, wo das Herz nicht fragt: ‚Warum, wie und wann und wodurch?‘, ist ein rechter Glaube und macht den Geist frei, weil ein solcher Glaube eine freie, unbedingte Annahme dessen ist, was dir von einem Boten der Himmel kundgetan wurde, dessen Autorität niemand als allein die Liebe deines Herzens zu prüfen hat.

[162.7] Fühlst du Liebe zum Boten, so nehme ihn auf; fühlst du aber keine, da lasse ihn gehen; denn auch der Bote hat die gleiche Weisung von Gott. Denn Er spricht und sprach: ‚Wo man euch aufnehmen wird, da bleibt; wo man euch aber nicht aufnehmen wird, da schüttelt den Staub eurer Füße über sie und zieht dann weiter!‘

[162.8] Du siehst daraus, dass weder der, an den die Botschaft geschieht, und ebenso auch der Bote selbst gebunden sein sollen, sondern ganz frei. Die Verkündigung frei und die Annahme frei; denn wo mehr verlangt wird, da ist keine Freiheit mehr, sondern ein Gericht, das keinen Geist frei macht.

[162.9] Denn wäre Gott, dem ewigen Herrn, darum zu tun, Seine Menschen durch unumstößliche Beweise zu lehren, dass Er ist und wie und wodurch, so wäre Ihm das ein überaus Leichtes; denn Er dürfte die Menschen nur in ein Gericht stellen, so würden sie unmöglich etwas anderes annehmen und denken können, als wie da ihr Herz gleich dem der Tiere gerichtet wäre. Aber der Herr will keine künstlichen, sondern ganz freieste Menschen haben. Darum muss auch ihr Herz frei sein, besonders in der Annahme der geoffenbarten Lehre von Ihm, ansonsten sie in ihrem Geist nimmer frei werden können.

[162.10] Denn solange dein Verstand einen Beweis verlangt, um eine Lehre oder Offenbarung anzunehmen, so lange auch ist der Geist wie ein Gefangener im finsteren Gefängnis. Und da es ihn hungert und dürstet, da schreit er nach Nahrung, die ihm durch Beweise wie spärliche Brosamen erteilt wird, durch die er aber nie zu jener Kraft gelangen kann, vermöge welcher er sich von seinen Fesseln befreien könnte.

[162.11] Nimmt aber der Verstand des Herzens frei, ohne Beweise etwas an, da zeigt das Herz sogleich seine freie Kraft, die in den Geist übergeht und ihn frei macht. Ist aber der Geist frei, dann ist alles frei im Menschen: die Liebe, das Licht und das Schauen! Da braucht es dann keines Beweises für die Wahrheit mehr, denn da ist der freie Geist selbst die klarste und vollste Wahrheit aller Wahrheit.

[162.12] Frage nun dein Herz, ob du mir unbedingt glauben kannst, was ich dir sagen werde, so werde ich dir auch sagen, was du wissen möchtest! Kannst du aber das nicht, dann wäre meine Rede vergeblich. Denn wir sind nicht gekommen, euch zu richten, sondern euch frei zu machen vom harten Joch eurer alten Knechtschaft!“

[162.13] Spricht der Weise: „Erhabener Freund! Du stehst höher als ich; daher rede! Und ich werde dir glauben frei, weil ich dir glauben will!“

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Bischof Martin

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