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161. Der dummstolze Sonnentempelälteste und Martin im Weisheitszwiegespräch

[161.1] Bei diesen Worten tritt auch schon der Älteste und Weiseste der dritten Höhe aus der großen Flur des Tempels in ganz grauem Faltengewand, umgeben von Jünglingen und Jungfrauen. In der rechten Hand trägt er einen Stab gleich dem des Aaron und in der Linken eine Art Zauberband, auf dem verschiedene Zeichen mystischen Aussehens kleben. Als er etwa fünf Schritte vor den drei Anführern steht, da rollt er das Band vollends auf und legt selbes vor sich ganz ausgestreckt auf den blausamtartigen Boden nieder. Darauf senkt er den Stab auf dieses Band nieder und spricht nach einer Weile:

[161.2] [Der Älteste:] „Bei der unermesslichen Kraft und Macht, die mir eigen ist durch meine unbegrenzte Weisheit, beschwöre ich euch als der erste und älteste Mensch dieser Welt, die ewig kein Ende hat und erhalten wird von mir,“ –

[161.3] Spricht Martin dazwischen bei sich: „Oder was! Der Kerl wird possierlich! Nur so fort in dieser Breite!“

[161.4] [Der Älteste:] „dass ihr mir der unendlichsten Wahrheit getreu kundgebt, was ihr hier wollt, und was euch hierher geführt hat! Der leiseste Schein von einer Unwahrheit aus eurem Mund – und ihr alle werdet durch meine unbesiegbare Macht zerstäubt werden! Nun redet!“

[161.5] Spricht Martin laut: „Wir alle zugleich, oder einer für alle? Das müssen Eure Weisheit schon näher bestimmen; denn gar so gescheit sind wir nicht, als Eure Hochweisheit! Bitte also um nähere Bestimmung! – (Bei sich:) Der ist just recht; denn seine Dummheit zieht auch zugleich einen starken Schleier über die Schönheit der Jungfrauen, und das ist auch recht! Nun bin ich mit Petrus, Johannes und allen wieder vollkommen ausgesöhnt.“

[161.6] Spricht der Weise: „Wenn einer spricht, da kann man noch nicht wissen, wie die anderen gesinnt sind. Daher müssen alle zugleich und sehr laut reden!“

[161.7] Spricht Martin bei sich: „Ich bin doch im Allgemeinen und besonders gegenüber diesen alten Himmelsfürsten sehr dumm, aber über die Dummheit dieses Weisen steht doch nichts mehr auf! Dem seine Weisheit will ich ganz allein so verarbeiten, dass er sich am Ende vor lauter Dummheit und großer Verlegenheit gar nimmer umdrehen soll können! Muss aber doch den Petrus fragen, was ich hier tun soll!“ – Darauf wendet sich Martin zu Petrus in dieser Hinsicht.

[161.8] Und Petrus spricht: „Lieber Bruder, nun ist die Reihe an dir, und das mit der vollsten Freiheit und Wahrheit! Hier rede, wie dir die Zunge gewachsen ist!“

[161.9] Spricht darauf der Martin zum Weisen: „Aber, du unbegrenzter Weiser, so deine Weisheit so ungeheuer ist, da begreife ich ja gar nicht, wie du uns fragen kannst, was wir hier wollen und was uns hierhergeführt hat? Denn sieh, wir viel geringeren Weisen durchschauen z. B. sogar dich auf ein Haar und wissen nun schon ganz genau, was hinter deiner vermeinten höchsten Weisheit steckt! Und so meine ich, du wirst uns auch auf gleiche Weise über- und durchschauen, so du im Ernst gar so ungeheuer weise bist! Was meinst du in dieser Hinsicht?“

[161.10] Spricht der Weise: „Ja, das kann ich wohl auch, wenn ich das große magische Band vor mir ausgebreitet habe und habe dabei den Doppelstab. Aber da ich für so geringe Gäste nur meine ordinärsten Behelfe mitgenommen habe, so muss ich wohl auch fragen; und so müsst ihr nun reden!“

[161.11] Spricht Martin: „Ja, wenn so, wie wirst du denn hernach ersehen können, ob wir die Wahrheit oder Unwahrheit sagten?“

[161.12] Spricht der Weise: „Um dem vorzubeugen, habe ich euch die große Drohung gemacht, die ich auch ausführen werde, so ihr die Unwahrheit reden würdet. Daher nur die ungeheucheltste Wahrheit, oder sonst -“

[161.13] Spricht Martin: „Ja, oder sonst – bist und bleibst du ein Esel!“

[161.14] Spricht der Weise: „Was ist das: ein ‚Esel‘?“

[161.15] Spricht Martin: „Das ist bei uns ein ganz harmloses Wesen, ganz von deiner Farbe, und hat sehr lange Ohren, aber dafür einen äußerst kurzen Verstand!“

[161.16] Spricht der Weise: „Was berechtigt dich, mich dafür zu halten?“

[161.17] Spricht Martin: „Erlauben Eure unendliche Weisheit mir eine kleine Pause, denn so eine wichtige Frage braucht Studium!“

[161.18] Spricht der Weise: „Was heißt ihr ‚Studium‘? Da bei uns gibt es kein Ding, das da ‚Studium‘ hieße!“

[161.19] Spricht Martin: „Höre, du Weisester der Weisen, deine Weisheit muss eben nicht gar zu weit her sein, so du das nicht kennst, was zur Erlangung der Weisheit vor allem wenigstens im Anfang vonnöten ist! Ein Studium ist so viel als ein fleißiges Nachdenken über die ersten Begriffe und Elemente, die der Weisheit notwendig vorangehen. Verstehst du nun, was ein Studium ist?“

[161.20] Spricht der Weise: „Nein, sage ich dir, das verstehe ich nicht. Denn meine Weisheit ist zu groß und fasst solche Kleinigkeiten darum nicht, weil sie ihr zu klein, zu geringfügig sind. Daher erkläre dich großartiger, sonst kann ich dich nicht verstehen!“

[161.21] Spricht Martin: „Schau, schau, du bist erst nicht gar so dumm, als man es glauben solle, so man dich ansieht und dann erst hört! Also pur wegen der ungeheuren Größe deiner Weisheit kannst du solche Kleinigkeiten nicht fassen! Schau, schau, wie weise! Aber so du schon ob deiner immensen Weisheit solche Kleinigkeiten nicht fassen kannst, da begreife ich wieder nicht, wie du ehedem den noch viel kleineren Begriff ‚Esel‘ sogleich begriffen hast mit sehr kurzer Erläuterung?“

[161.22] Spricht der Weise: „‚Esel‘ ist ein Wesen – und ‚Studium‘ nur ein Begriff. Ein Wesen aber fasst man allzeit leichter als man einen puren Begriff fasst! Also rede daher größer und für mich fasslicher!“

[161.23] Spricht Martin: „Freund, ich glaube, wir beide werden uns besonders in der Folge sehr schwer oder wohl auch gar nicht verstehen, da du samt deiner Weisheit so ein überaus dummes menschliches Wesen bist, bei dem aber auch nicht eine allerleiseste Spur von irgendeiner Weisheit anzutreffen ist!

[161.24] Ich aber gebe dir einen Rat und sage dir: Trete du fein zurück und lasse einen anderen – aber ohne Zauberband und Hexenstab – für dich reden! Vielleicht wird er etwas Besseres zum Vorschein bringen. Allenfalls wie die drei Töchter dieses Hauses, die uns zuerst entgegenkamen und recht viele weise Worte hervorbrachten, dass ich darob füglich schließen musste, dass ihr noch gar ungeheuer weiser sein werdet?!

[161.25] Aber ich habe mich in dieser Erwartung sehr getäuscht; denn so einen blitzdummen Kerl, wie du einer bist, gibt es vielleicht auf deiner ganzen Welt nicht zum zweiten Mal! Weißt du, wir beide sind nun miteinander schon fertig; daher trete zurück und lasse einen anderen für dich reden!“

[161.26] Spricht der Weise: „Das geht hier ewig nicht an. Denn so ich von der Höhe aller Höhen herabkomme zu diesen gemeinen Würmern, da darf niemand reden denn allein ich als der Höchste, der Weiseste, der Mächtigste, der Ewige, der Unendliche!“

[161.27] Spricht Martin: „Oder was! Sapperment, du bist am Ende etwa gar das allerhöchste Gottwesen?“

[161.28] Spricht der Weise: „Das gerade nicht, aber nicht viel minder; nur ist Er um etwas älter als ich, indem ich Sein Sohn bin!“

[161.29] Spricht Martin: „Sonst nichts? Oder vielleicht doch noch so ein bisschen was hinzu! Weißt, so ein bisschen was wie eine Zuwaage?“

[161.30] Spricht der Weise: „Freilich wohl noch gar sehr viel hinzu; aber das wäre für dich zu unbegreiflich. Daher kann ich dir’s nicht sagen, denn du bist ein Nichts gegen mich!“

[161.31] Spricht Martin: „Ja, ja, das glaube ich dir alles auf ein Haar. Oh, oh, du bist wirklich was Großes, ja ungeheuer Großes in deiner Art! Du wirst deinesgleichen auf dieser Welt sicher nimmer finden! O du, du, du, du, du!“

[161.32] Spricht der Weise: „Ja, ich habe niemanden über mir, und wenn ich mit dem Stab den Boden berühre, so erbebt die ganze Welt, und alle Wesen zittern vor Furcht, so ich mich ihnen nahe! Ich begreife aber nun durchaus nicht, wie du nicht zitterst und diese deine schwachen Begleiter auch nicht zittern vor mir, der ich euch doch ganz plötzlich verderben könnte?“

[161.33] Spricht Martin: „Was du jetzt nicht begreifst, das wirst du hoffentlich äußerst bald begreifen! Von mir aus wohl am wenigsten; aber es ist schon jemand gegenwärtig bei dieser Gesellschaft, der es dir sagen wird, warum wir vor dir durchaus nicht zittern und auch ewig nie zittern werden!

[161.34] Denn siehe, du bist durch einen argen Geist, der in der Gestalt eines Lichtengels einmal zu dir kam, weidlichst betrogen worden, und hast hernach auch diese ganze große Gemeinde betrogen, da du ihr Gesetze gabst, durch die sie tun kann, was sie will, und nimmer fehlen kann; welche Gesetze so gut wie gar keine Gesetze sind!

[161.35] Ich weiß aber, dass du ehedem ein recht demütiger Weiser warst und bist deiner großen Gemeinde bestens vorgestanden. Als dich aber jener falschlichte Geist betört hatte und dir statt der alten, wahren göttlichen Weisheit diese deine gegenwärtige übergroße, allereselhafteste Dummheit gab, da bist du geworden, wie du nun bist, nahe ein Wesen voll der größten Narrheit!“

[161.36] Spricht der Weise: „Du sprichst da etwas, das der Sache nach wohl wahr ist. Aber ob ich darum ein Narr bin, das muss sich erst zeigen, denn ich komme mir nicht so vor. Ich gebiete dir darum weiterzureden, aber nur stets groß!“

[161.37] Spricht Martin: „Sage mir, ob du dich wohl erinnern kannst, wie alt du bist? Bist du wohl immer gewesen, was du bist, oder war vor dir irgendein anderer in deinem Amt, vielleicht dein Vater? Warst du nicht etwa einmal jünger als nun, oder etwa gar ein Knabe? Nur das sage mir, dann werde ich dir um sehr vieles leichter deine Frage beantworten können!“

[161.38] Spricht der Weise: „Die erste Frage kann ich dir darum nicht beantworten, weil der große Zeitmesser zerstört ist schon seit einer geraumen Zeit. Ein einstmaliger großer Sturm hat die Schnur des großen Pendels abgerissen, und wir können sie nicht mehr ganz machen. Daher weiß auch weder ich noch jemand anderer, wie alt man hier ist.

[161.39] Ob ich immer war oder ob ich einmal einen Anfang genommen habe, so kann ich mich nur ganz dunkel erinnern, als wenn ich auch einmal wäre geboren worden und wäre sonach auch nicht immer das gewesen, was ich nun bin. So kommt es mir auch vor, als ob ich einmal einen Vater gehabt hätte, der damals, als ich noch ein Knabe war, mein Amt bekleidete, aber freilich nicht mit meiner großen Weisheit! Beantwortet sind deine Fragen, darum rede nun wieder du!“

[161.40] Spricht Martin: „Sieh, sieh, ich habe es ja gewusst, dass du kein Gott und kein Gottessohn, sondern ganz einfach ein sterblicher Mensch bist, wie es unsereiner war. Und das ist schon gut für dich und deine ganze Gemeinde; denn also kannst du und deine ganze Gemeinde noch wieder gerettet werden! Wärst du aber in deiner starren Dummheit verharrt, da hätte es euch nun im vollsten Ernst sehr schlecht ergehen können. Warum, das wird dir die nächste Folge zeigen. Willst du aber sehr glücklich sein, da werfe sogleich dein magisches Band von dir wie auch deinen Zauberstab, sonst lässt sich mit dir noch immer kein recht weises Wort sprechen!“

[161.41] Spricht der Weise: „Du verlangst zu viel von mir. Denn lege ich diese notwendigsten Behelfe für meine Kraft, Macht und Weisheit weg, so kann ich ja nichts mehr wirken! Wer wird mir gehorchen, so ich keine Macht habe, wer sich einem Kraftlosen vertrauen? Und wer wird mich hören, so ich keine Weisheit habe? Daher musst du nicht Dinge von mir verlangen, die sich mit meiner höchsten Würde ewig nicht vertragen!“

[161.42] Spricht Martin: „Freund, wir Erdbewohner haben ein allerhöchstes Wort von Gott Selbst, und das lautet also: ‚Es gibt nichts, das ihr verlasst in Meinem Namen, das ihr dann nicht hundertfach wieder nehmt zur Zeit der Vergeltung!‘

[161.43] Und siehe, so wird es auch mit dir der Fall sein! Was du uns tun wirst, und was du lassen wirst in unseres Herrn Namen, das wirst du tausendfach wieder erhalten in aller Wahrheit. Elendes wirst du lassen, und Edelstes wirst du dafür nehmen. Für Schein wirst du ein wahres Sein empfangen. Für Falsches wird dir Wahrheit, für Dummheit Weisheit, für Schwäche wahre Kraft, für Ohnmacht Macht, und so wirst du alles in wahrster Fülle erhalten von Gott dem Herrn, was du hier lässest vom Übermaß deiner Nichtigkeit!

[161.44] Daher tue freiwillig gerne, was ich von dir verlange, und ich gebe mich freiwillig dir zur Geisel, dass du mit mir machen kannst, was du willst, so ich dir hier nicht die vollste Wahrheit gesagt habe!“

[161.45] Spricht der Weise: „Gut, ich sehe schon, dass du im Ernst ein wahrhaftigster Geist bist und tue sonach, was du von mir verlangst. Dafür aber beantworte mir doch einmal die erste Frage, als wer und woher ihr seid, damit ich euch dann in dies Haus führen kann!“

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