[125.1] Die drei gehen nun gar freundlichen Antlitzes zu den armen Weibern, und als sie bei ihnen ankommen, nimmt der Borem das Wort und spricht:
[125.2] [Borem:] „Liebe Schwestern, hört mich recht geduldig an! Ich will euch allen ein gutes Recht verschaffen, denn ich weiß, dass da euer Herz leidet, und weiß, dass dieser Bruder, als ihr ehedem bei ihm euer Recht suchtet, euch hart zurückgewiesen hat. Ich konnte damals, als selbst Gast dieses Hauses, diesem Hauseigentümer nicht in seine Rede, in sein Recht fallen, denn ein jeder ist der erste Rechtsherr seines Hauses.
[125.3] Da mir nun aber der Oberherr aller Hausherren nun das Recht eingeräumt hat, auch als Gast das Recht der Liebe zu üben, so will und werde ich auch nun nach allen meinen Kräften und mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln euch allen euer gutes Recht verschaffen und alles im Namen des Herrn gutmachen, was euch nun bedrückt und euer Herz beleidigt hat. Seid ihr alle, meine lieben Schwestern, damit zufrieden?“
[125.4] Reden die Weiber wie aus einem Mund: „O ja, o ja, du lieber, guter Freund! Wahrlich, du bist schon ganz sicher ein wahrer Gottesfreund; von dir wollen wir ja alles gerne annehmen! Du meinst es gut und redlich mit uns und erkennst das Leid unserer Herzen. Aber mit diesem Martin wollen wir nichts mehr zu tun haben. Denn statt unsere Not zu erkennen, uns zu trösten, zu belehren und die Wahrheit zu zeigen, so wir etwa doch auf einem Irrweg wären, hat er uns zur Hölle in das Bad der Teufel verwiesen. Das war sehr unhimmlisch von ihm gegen uns gehandelt, von ihm, der ein Hauptbürger der Himmel ist oder doch wenigstens sein will. Daher wäre es uns lieber, so er zurückträte, auf dass wir uns nicht ärgerten an seinem Anblick.“
[125.5] Spricht der Borem: „Liebe Schwestern, lasst das nur gut sein, und lasst es nun mir über. Ich werde schon alles wiedergutmachen. Seht, dieser unser Bruder Martin ist kein böser Geist, sondern, wie ich, aus dem Herrn nur ein guter.
[125.6] Wir hatten mit jenen nun wohl noch stark argen Gästen, die nun in jenem Bad sind, sehr viel zu tun und hatten dabei recht viel bedauerlichen Ärger. Als wir, der für uns zu großen Mühe nahe völlig überdrüssig, zu jenem übermächtigen Freund gingen, uns ferneren Rat zu holen, da kamt ihr uns gerade wie in einem sehr ungünstigen Wurf entgegen. Und der ohnehin sehr leicht erregbare Martin hat euch dann freilich wohl etwas zu hart und unsanft empfangen, was aber, wie gesagt, uns allen sehr zu verzeihen ist.
[125.7] Daher meine ich, ihr werdet das ihm wohl leicht verzeihen, da er doch sonst zu euch voll Liebe ist und hat eine große Freude, euch alle als seine lieben Hausgenossen zu begrüßen. Ich glaube, ihr werdet das tun, was ich auch ganz sicher tun würde, so ihr mich mit was immer beleidigt hättet.“
[125.8] Sagen darauf die Weiber: „Weißt du allerliebster Freund, was du uns sagst, das tun wir ja alle recht von ganzem Herzen gerne. Aber das sagen wir dir auch zur Beschämung des Martin: nur dir zuliebe tun wir’s und wollen ihm seine große Unart nachsehen. Aber in der Folge möchten wir es ihm wohl schwerlich mehr verzeihen, so er uns noch einmal so ungebärdig entgegenkäme.
[125.9] Er ist wohl ein recht lieber Mann, und es ist eine rechte Freude, seine schöne Gestalt anzusehen. Aber was nützt die Gestalt, so sie roher ist im Herzen denn ein Apfel acht Wochen nach der Blütezeit auf einem Baum? Wird uns Martin gleich dir entgegenkommen, da wird er in uns auch Herzen finden, die gewiss nicht ohne Liebe sind. Aber in seiner hausherrlichen Tyrannisierlust wird er anstatt der Liebe ganz was anderes finden!
[125.10] Wir sind ja nun, Gott sei’s gedankt, doch auch gewiss recht himmlisch schön. Die Männer alle, die hier in großer Anzahl zugegen sind, haben uns schon mit großem Wohlgefallen betrachtet, obschon wir uns darauf nichts zugutetun; denn wir wissen es ja, dass da alle äußere Schönheit ein Geschenk des Herrn ist. Aber dass eben der Martin und jener euer mächtiger Freund an uns gar nichts finden, das ihnen irgend ein Wohlgefallen für uns abgewinnen könnte, das ist denn doch kränkend für uns.
[125.11] Jene zwei Schwestern sind im Grunde doch auch nicht schöner als wir, und jener Freund liebt sie über alles und gibt sich ausschließlich fast nur ganz mit ihnen ab. Wir aber stehen hier wie arme Sünderinnen und werden von niemand beachtet, denn alles heftet die Augen an jene drei. Soll so was uns denn nicht kränken? Und so wir von jenem Freund eine Zeitlang auch schon die erhabensten Mutmaßungen in unseren Herzen fassten, müssen sie aber nicht wieder verwelken gleich irdischen Blumen, so ihnen alle nötige Nahrung entzogen wird?
[125.12] Siehe, das Herz braucht auch Nahrung, so es in der Liebe stark werden soll. Wie sollen aber unsere Herzen in der Liebe je stark werden, wenn sie nie eine Nahrung, sondern bloß nur Faste über Faste bekommen?“
[125.13] Spricht der Borem: „Ja, ja, meine geliebtesten und liebenswürdigsten Schwestern, ihr habt recht und eure Forderung ist gerecht. Aber habt nur eine kleine Geduld und eure Herzen werden bald in aller Überfülle gesättigt werden! Ihr wisst es aber ja, dass der gute Arzt zuerst die Kranken besucht und heilt und sodann erst zu den Gesunden auf Besuch kommt.
[125.14] Seht, also geschieht es auch hier. Werden jene beiden Patientinnen erst völlig hergestellt sein, dann wird jener Arzt schon auch zu euch kommen. Daher geduldet euch nur noch ein wenig, und der Arzt wird bei euch sein! Nun aber folgt mir, ich werde euch aber etwas gar Wunderbares zeigen!“
[125.15] Sprechen die Weiber: „O lieber Freund, das tut hier ja wahrlich nicht not! Denn in diesem ungeheuren Saal gibt es ja ohnehin eine solche Menge von den allerwunderbarsten Sehenswürdigkeiten, dass man sich daran ja gerade nimmer satt sehen kann!
[125.16] Dieser herrliche Fußboden, der doch gerade so aussieht, als wäre er aus lauter der alleredelsten Steine von den verschiedensten und lebendig frischesten Farben in den schönsten Girlandenformen zusammengefügt!
[125.17] Die großen, überherrlichen Säulen, die die unbeschreiblich schönsten Galerien tragen! Wie sie strahlen, als wären sie aus den schönsten Rubinen angefertigt, in deren Inneren stets tausend Sterne wie Goldfischlein im Wasser herumschweben und dadurch stets neue, wunderschöne Lichtformen bilden!
[125.18] Und wie du, Freund, es selbst siehst, so gibt es hier noch tausend und abermals tausend Herrlichkeiten, für die wir gar keine Namen haben. Da es aber dennoch hier eine so große Menge der überherrlichsten Dinge zur Beschauung gibt, so haben wir auch nicht ein allerleisestes Bedürfnis, noch etwas Herrlicheres und Wunderbareres zu sehen, als wir es hier sehen!
[125.19] Unsere Augen sind hier wohl in größter Überfülle versorgt und brauchen nichts Weiteres; aber ganz anders sieht es mit unseren Herzen aus! Siehe, diese sind noch sehr unversorgt! Was nützt das Auge erquicken, wenn dabei das Herz leidet? Sorge du, liebster Freund, daher zuerst für unsere Herzen, dann werden unsere Augen mit etwas ganz Leichtem befriedigt werden!“
[125.20] Spricht Borem: „Liebe Schwestern, eure Forderung ist sehr recht und gerecht. Aber ihr gebt sie mir früher kund, als ihr die Erfahrung genommen habt an dem, was ich euch zeigen möchte und auch zeigen will! Wisst ihr denn, ob das, was ich euch nun zeigen will, nicht eben hauptsächlich für eure Herzen berechnet ist? Wisst ihr denn schon im Voraus, worin das Wunderbare besteht, das ich euch zeigen soll? Ist das Wunderbare denn bloß nur für die Augen? Kann es nicht auch etwas höchst Wunderbares allein fürs Herz nur geben?
[125.21] Was ist denn mehr, das Auge oder das Herz? Kann nicht das Auge blind sein und das Herz dennoch in aller Fülle des Liebelebens schwelgen? Welches irdische Menschenauge kann Gott schauen? Seht, dazu ist jedes Fleischauge blind; aber das Herz kann Gott denken, es kann Ihn lieben, ja es kann sogar Ihm, dem Herrn, zu einem lebendigen Tempel werden, in welchem Er Wohnung nimmt! Was ist also mehr: das Auge oder das Herz?
[125.22] Wenn aber so, wie könnt ihr, meine lieben Schwestern, da denken, dass ich, hier im Reich des Herzens Gottes, euch irgendwohin führen möchte, wo es nur für die Augen allein wunderbar scheinende Spektakel gibt?!
[125.23] Ich sage euch, hier gilt alles ganz allein dem Herzen nur! Das Auge aller ist bloß nur ein Lichtzeuge von alledem, was da geschieht im Herzen, und was da dargebracht wird dem Herzen vom Herzen. Und so ist auch dasjenige Wunderbare, was ich euch zeigen will, nicht für eure Augen, sondern lediglich für eure Herzen vorbereitet.
[125.24] Aber da hier im Gottesreich kein Wesen blind ist, sondern jegliches seine Sehe hat, die da gleich kräftig ist, wie das Herz, so ist das Auge freilich auch allzeit Zeuge von allem dem, was da geschieht fürs Herz und kommt aus dem Herzen. Und so werdet auch ihr das, was für euer Herz geschehen wird, mit euren Augen sehen. Daher folgt mir nun!“
[125.25] Auf diese Worte Borems folgen alle die Weiber nun den dreien, und zwar zur Tür, die da führt in die Gefilde der Sonne.
Kein Kommentar bisher