[12.1] Nach einer langen Pause, in der er doch etwas furchtsam die so kühn beschimpfte und am Ende sogar herausgeforderte Gottheit erwartete, beginnt er wieder folgendes, etwas dumpfere Gespräch mit sich selbst, das da so lautet:
[12.2] [Martin:] „Nichts, nichts und abermals nichts! Ich kann herausfordern, wen ich will; schmähen, wen ich will; gröblichst beschimpfen, wen ich nur immer will; hier gibt es niemanden, hier hört mich niemand, ich bin wie ein alleiniges, sich selbst bewusstes Leben in der ganzen Unendlichkeit!
[12.3] Aber ich kann ja doch nicht allein sein! Die vielen tausend mal tausend Millionen von Menschen auf der Erde, die so wie ich geboren wurden, gelebt haben und wieder gestorben sind, wo sollen denn diese hingekommen sein? Haben sie etwa gänzlich aufgehört zu sein, oder haben sie irgend in all den zahllosen Punkten der ganzen Unendlichkeit, voneinander endlos weit entfernt, etwa mit mir ein gleiches Eselslos? Das scheint mir wohl das Allerwahrscheinlichste zu sein. Denn mein einstiger Führer und darauf die schönen Schäflein und Lämmlein waren doch ein sicherer Beweis, dass es in dieser rein endlosen Welt wohl noch irgend Menschen gibt! Aber wo, wo, wo? Das ist eine ganz andere Frage!
[12.4] Da hinaus über dies endlose Meer wird es wohl sehr wenig Lebendiges mehr geben – aber höchstwahrscheinlich endlos weit hinter meinem Rücken! Wenn ich nur zurückkönnte, so möchte ich auch diesen Versuch machen und würde sie aufsuchen! Aber leider bin ich hier mit Wasser so sehr ringsum verrammelt, dass da eine Umkehr beinahe rein unausführbar erscheint.
[12.5] Hier unter meinen Füßen ist’s wohl noch trocken, und ich stehe noch auf einem, wennschon sehr lockeren, aber mich dennoch mit genauer Not tragenden Boden. Aber so ich da den Fuß weitersetzen würde, entweder rück- oder vorwärts, wie würde es mir dann ergehen? Sicher würde ich in den bodenlosesten Abgrund hinabsinken, in dies endlos große Wassergrab! Darum muss ich hier schon hocken bleiben in alle Ewigkeit, was auf jeden Fall eine herrliche Unterhaltung für mich abgeben wird!
[12.6] Ach, wenn es hier doch so ein kleines, aber sicheres Schiff gäbe, in das ich so ganz ungeniert einsteigen könnte, und lenken, wohin ich’s wollte: Welch eine Seligkeit wäre das doch für mich nun wahrhaftigst allerärmsten Teu… oho – nicht heraus; dieser Name soll nie über meine Lippen kommen! Es wird zwar an dem Te…, nein – Gott steh uns bei, ebenso wenig daran sein als an der Gottheit selbst; aber der Begriff selbst an sich ist so hässlich, dass man ihn ehrlichermaßen wohl nicht leicht ohne einen gewissen heimlichen Schauder aussprechen kann!
[12.7] Was sehe ich aber dort, am Wasserspiegel dort, nicht fern von hier? Ist es etwa ein Ungeheuer – oder etwa gar ein Schiff? Siehe, siehe, du mein dürstend Auge, es kommt näher und näher! Bei Gott, es ist im Ernst ein Schiff, ein recht nettes Schiff mit Segel und Ruder! Nein, wenn das herkäme, so müsste ich von neuem an einen Gott zu glauben anfangen; denn so was wäre ein zu auffallender Beweis gegen alles, was ich bisher geplaudert habe! Richtig, richtig, es kommt stets näher und näher! Vielleicht hat es gar jemanden an Bord? Ich werde um Hilfe schreien: Vielleicht hört mich jemand?!
[12.8] (Martin, laut:) He da! He da! Zu Hilfe! Hier harrt derselben schon eine endlose Zeitendauer ein sehr unglücklicher Bischof, der einst auf der Welt einen sehr großen Herrn gespielt hat, nun aber hier in dieser Geisterwelt in die größte Armseligkeit versunken ist und sich nimmer zu helfen und zu raten weiß! O Gott, o Du mein großer, allmächtiger Gott, so Du irgend Einer bist, helfe mir, helfe mir!“
[12.9] Nun seht, das Schiff nähert sich behände dem Ufer, wo unser Mann sich befindet! An Bord erseht ihr auch einen gewandten Schiffer, der Ich Selbst es bin, und hinter unserem Mann den Engel Petrus, der nun, da das Schiff ans Ufer stößt, samt diesem unserem Bischof, ganz behände das Schiff besteigt.
[12.10] Der Bischof aber ersieht bloß Mich als den Schiffsmann, aber den Engel Petrus ersieht er noch immer nicht, weil dieser stets hinter ihm einhergeht. Er geht, wie ihr es leicht merken könnt, überaus freundlichen Angesichts schnurgerade auf Mich zu und spricht:
[12.11] „Welch ein Gott oder welch sonst für ein anderer guter Geist machte es denn, dass Du mit Deinem Schifflein auf diesem endlos großen Meer Dich gerade in diese Gegend verirrtest oder leicht wohl gar geflissentlich hierherlenktest, wo ich eine gar so undenklich lange Zeit der Erlösung harrte? Bist Du etwa gar ein Lotse in dieser Geisterwelt oder sonst ein Rettungsmann? Menschen Deinesgleichen müssen hier unglaublich selten sein, indem ich jetzt wohl seit einer undenklichen Zeitdauer aber auch nicht die allerleiseste Spur von irgendeinem Menschen entdeckt und gesehen habe.
[12.12] O Du holdseligster, liebster Freund Du! Du scheinst mir von einer viel besseren Natur zu sein als einer, der vor einer undenklich langen Zeit sich mir als Führer in dieser Welt von selbst aufdrang, um mich auf irgendeinen rechten Weg zu bringen! Aber das war Dir ein Führer Nonplusultra! Gott der Herr mag es ihm verzeihen; denn er führte mich nur durch eine kurze Zeit, und da zu lauter Schlechtem.
[12.13] Einmal musste ich mein Bischofskleid, das ich – Gott weiß es wie – von der Welt mit herübernahm, ablegen und dafür diese gegenwärtige Bauernkleidung anziehen, die wohl aus einem allerbesten Stoff verfertigt sein muss, ansonst sie selbst bei einem allerruhigsten Verhalten unmöglich Millionen von Erdjahren gedauert hätte!
[12.14] Mit dieser Bescherung aber wäre ich noch so leidlich zufrieden gewesen, natürlich mit der Hoffnung auf eine bessere Bescheidung dieses meines geisterweltlichen Schicksals; allein, was tat Dir dieser Held von einem Führer? Er selbst dingte unter manchen moralischen Sentenzen mich zu einem Hirten seiner Schafe und Lämmer.
[12.15] Ich nahm den Dienst bereitwilligst an – obschon auf einem lutherischen Boden –, gehe mit einem dicken Namenbuch seiner Herde hinaus und wollte tun, wie er es mir angezeigt hatte; allein sieh da, aus der Herde der Schafe und Lämmer wurden Dir lauter bildschönste Mädchen! Von Schafen und Lämmern war keine Spur!
[12.16] Ich hätte die Namen der Schafe und Lämmer aus dem Buch verlesen sollen, aber es kamen keine solchen Tiere in der ganzen Gegend woher, die ich doch vorher deutlich aus dem Haus dieses lutherischen Führers gesehen habe!
[12.17] Wohl aber kamen, ohne sich aus dem Buch rufen zu lassen, diese schönsten Mädchen, wie man zu sagen pflegt, haufenweise zu mir und scherzten um mich her und küssten mich sogar. Und eine, die gar allerschönste, hat sich gar über mich her mit beiden Armen ausgebreitet und hat mich mit einer so bezaubernden Anmut an ihre zarte Brust gedrückt, dass ich darob in ein solches Gefühlsdulzissimum [Gefühlsdusel] kam, wie ich etwas Ähnliches auf der Welt wohl nie empfunden habe.
[12.18] Die ganze Geschichte war im Grunde sicher nicht schlecht, besonders für einen Neuling in dieser Welt! Denn was wusste ich vorher, dass ich statt der Schafe und Lämmer solche Mädchen würde in meine Obhut bekommen?
[12.19] Aber da war, wie von einem Blitz herbeigeführt, auch schon mein ‚schöner‘ Führer bei der Hand und machte mir darob eine Predigt, die dem Martin Luther keine Schande gemacht hätte, und gab mir unter manchen Androhungen neue, aber noch dümmere und lästigere Vorschriften, die ich auf das Strengste hätte befolgen sollen und die sämtlichen Schafe und Lämmer am Ende auf einen angezeigten Berg bringen!
[12.20] Allein ich, mit diesem etwas sonderlichen Auftrag bei mir eben nicht sehr zufrieden, bekam darauf weder den Führer noch die Herde zu Gesicht, wartete Gott weiß wie viele Millionen Jahre – allein umsonst; wollte endlich das Buch meinem sauberen Dienstgeber ins Haus zurückstellen. Allein das Buch, wahrscheinlich eine Art geistiger Automat, empfahl sich von selbst, nebst der ganzen Gegend; und ich empfahl mich endlich auch und ging, kam hierher und konnte nicht mehr weiter, schimpfte eine Zeitlang, was ich nur konnte, verzweifelte nahe völlig, da sich durch eine so endlos lange Dauer von keiner Seite her eine Spur von irgendeiner Rettung zeigte.
[12.21] Endlich kamst Du als ein wahrhaftiger göttlicher Rettungsengel hierher und hast mich in Dein sicheres Fahrzeug aufgenommen! Nimm meinen möglichst größten Dank dafür hin! Hätte ich etwas, womit ich es Dir vergelten könnte, o wie süß wäre das meinem Dir ewig dankbarsten Herzen! Aber Du siehst, dass ich hier ärmer bin als alles, das der Mensch nur immer als arm bezeichnen kann, und außer mir nichts besitze. Daher begnüge Dich für solche Deine große Freundschaft mit meinem Dank und mit mir selbst, so Du mich zu irgendeinem Dienst gebrauchen und verwenden kannst.
[12.22] O Gott, o Gott, wie ruhig und wie sicher und wie schnell schwimmt Dein Fahrzeug über den brausenden Wogen dieses endlosen Meeres, und welch ein angenehmes Gefühl! O Du lieber Freund Du, o Du göttlicher Freund, jetzt sollte mein einstiger sehr bornierter Führer da sein! Da möchte es sich denn doch der Mühe lohnen, Dich ihm vorzustellen und zu zeigen, was ein rechter Führer und Retter für ein Gefühl haben müsse, so er ein Führer sein will! [Ich] war wohl auf der Welt selbst einmal ein Führer, aber – da schweige ich! O Dank Dir, Dank! Wie herrlich geht das Schifflein!“
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