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11. Fatale Lage unseres Wanderers und dessen weiteres Selbstgespräch, das in ärgerliches Schimpfen übergeht

[11.1] Nun da seht hin: Unser Mann hat nun bereits das Meer erreicht, und kein Zünglein teilt irgend mehr das endlose Gewässer dieses Meeres, was da eben aus dem grenzenlosen Unverstand dieses Mannes entspringt und selben in entsprechender Form darstellt; oder es bezeichnet jenen Zustand des Menschen, in welchem er fast zu gar keiner Vorstellung von was immer gelangen kann und somit förmlich begriffslos wird und gleich wird einem komplettesten Narren, bei dem all seine Begriffe chaotisch in ein Meer von Unsinn zusammenfließen.

[11.2] Mürrisch und voll Unwillen steht er nun am letzten Rand, das ist: am letzten Begriff, nämlich bei ihm selbst! Sich allein noch erkennt er; alles andere ist zu einem finsteren Meer geworden, in dem nichts als nur allerlei unförmliche, finstere Ungeheuer dumpf und blind und stumm herumschwimmen und sich um unsern Mann herumreihen, als wollten sie ihn verschlingen. Groß ist die Dunkelheit und feucht und kalt der Ort; unser Mann erkennt nur aus der Wellen mattestem Schimmer und von dem grauenerregenden dumpfen Geplätscher der Wogen, dass er sich nun am Rand eines unermesslichen Meeres befindet.

[11.3] Hört nun aber wieder ihn selbst, was er nun alles für sonderliches Zeug zusammenfaselt, auf dass ihr erkennen mögt, wie es nicht nur diesem Mann, sondern noch einer zahllosen Menge von Menschen ergeht, die alles im Kopf, in ihrer dümmsten Einbildung, aber wenig oder nichts in ihrem Herzen besaßen und noch besitzen. Horcht nun, er beginnt zu sprechen:

[11.4] [Bischof Martin:] „So, so, so – jetzt ist es recht! O du verfluchtes Sauleben! Wenigstens zehn Millionen von Erdjahren musste ich als eine arme Seele in dieser Nacht und barsten Finsternis herumirren, um statt eines erwünschten guten Zieles an ein Meer zu gelangen, das mich ohne weiteres für die gesamte Ewigkeit notwendig verschlingen wird!

[11.5] Das wär’ mir ein schönes „Requiescant in pace, et lux perpetua luceat eis!“ [Sie mögen ruhen in Frieden, und das ewige Licht leuchte ihnen!] Auf der Welt werden sie diese herrliche Hymne mir sicher oft genug nachgesungen haben, und ich ruhe nun wohl für die Welt ewig, und meine Asche wird noch irgend von einer Sonne beschienen oder von einem andern phosphorischen Moderschimmer einer Totengruft; aber ich, ich, der eigentliche Ich – was ist aus mir geworden?

[11.6] Ich bin wohl noch ganz derselbe, der ich war; aber wo, wo, wo bin ich, wo bin ich hingekommen? Hier steh ich an einer lockeren Spitze einer schmalsten Erdzunge, so man diesen Boden auch Erde nennen kann, und rings um mich her ist die dickste Nacht und ein ewiges, unergründliches Meer.

[11.7] O Menschen, die ihr auf der Erde noch die große Gnade habt, das Leben des Leibes zu besitzen – vorausgesetzt, dass die Erde noch besteht –, o wie endlos glücklich seid ihr und wie enorm reich gegen mich, [ihr] alle, die ihr dort in den dürftigsten Lumpen gute Menschen um einen Zehrpfennig anfleht! Leider erwartet euch hier mein oder vielleicht noch ein viel längeres Los!

[11.8] Daher rette sich dort, wer sich nur immer retten kann: entweder durch feste Haltung der Gesetze Gottes, oder er werde mit Leib und Seele ein Stoiker, was vorzuziehen ist; alles andere taugt für nichts! Hätte ich das eine oder das andere getan, so wäre ich nun glücklicher; so aber stehe ich als ein ewiger Ochse und Esel zugleich – nicht vor einem Berg, sondern vor einem Meer, das da sicher ewig fortdauert, mich wahrscheinlich für ewig verschlingen wird, aber unmöglich töten kann, weil ich denn schon einmal unsterblich sein muss!

[11.9] Denn könnte hier in dieser endlos dümmsten Geisterwelt mir etwas den Tod geben, so wäre es doch unfehlbar am Ersten der furchtbare Hunger, der mich nun schon so viele Millionen von Erdjahren auf das Allerentsetzlichste plagt. Wäre ich nicht selbst eine höchstwahrscheinlich sehr luftige Seele, so hätte ich mich schon lange gleich einem Werwolf bis aufs letzte Zehenspitzel aufgefressen; aber so ist auch das nichts und wieder nichts!

[11.10] Wenn mich aber dies Meer nun höchstwahrscheinlich ehestens verschlingen wird, wie wird es mir dann in dieser endlosen Fischwelt ergehen? Wie viele Haifische werden mich darinnen verschlingen, und wie viele andere Ungeheuer werden sich an mir mit ihren Zähnen versuchen und werden mich fressen und mir dadurch die größten Schmerzen verursachen und mich aber dennoch ewig nicht zu töten imstande sein! O der herrlichsten Aussicht für die ewige Zukunft!

[11.11] Vielleicht waren jene Schafe und Lämmer so eine Art geistiger Sirenen und haben mich unsichtbar hierhergezogen, um mich hier zu zerreißen und aufzufressen? Es ist schon freilich nahe endlos nicht mehr wahr, dass ich sie einmal vor zwölf Millionen Jahren der Erde gesehen habe; aber dennoch wäre so was gerade nichts Unmögliches in dieser unbegreiflich dümmsten Geisterwelt, in der man die Jahrtausende verlebt, ohne außer sich etwas zu erschauen, zu beurteilen und zu erkennen, ohne etwas zu tun, außer dann und wann mit sich einige tausend Jahre lang wert- und fruchtlose Gespräche zu führen gleich einem allerbarsten Narren auf der Welt der Körpermenschen!

[11.12] Ich begreife nur das Einzige nicht, dass ich nun keine größere Furcht habe in dieser meiner sicher allerverzweifeltsten Lage. Ich bin im Grunde mehr zornig als furchtsam; aber da ich niemanden habe, an dem ich meinen gerechten Zorn auslassen könnte, so muss ich ihn in mir wie einen abgestandenen Essig verbeißen.

[11.13] Aber dennoch kommt es mir vor, dass wenn selbst Gott nun, so Er irgend Einer ist, zu mir käme, so würde mein abgestandener Essig von einem Zorn wieder ganz frisch, und ich könnte mich weidlich vergreifen an einem solchen Schmafugott [schäbigen Gott], so Er irgend Einer ist, darum Er die vergängliche Welt mit zahllosen Herrlichkeiten ausschmückte, diese unvergängliche aber schlechter bedachte als der barbarischste Tyrann von einem Stiefvater seine ihm allerverhasstesten Stiefkinder, die ohne ihr Verschulden das Dasein erhielten und leider, leider, leider seine Stiefkinder geworden sind!

[11.14] O wie herrlich wäre es, an so einem Gott seinen Zorn auszulassen, wenn Er irgend Einer wäre! Aber leider, es gibt keinen Gott und kann nie einen gegeben haben; denn gäbe es irgendein gottartiges höheres Wesen, so müsste es doch notwendig weiser sein als wir, seine Geschöpfe, es sind; aber so ist von solch einer Weisheit aber auch nirgends nur eine leiseste Spur zu entdecken!

[11.15] Denn das muss doch ein Blinder einsehen, dass jedes Sein und Geschehen irgendeinen Zweck haben muss; ich aber bin doch auch ein Sein und ein unverschuldetes Geschehen! Ich lebe, ich denke, ich fühle, ich empfinde, ich rieche, ich schmecke, ich sehe, ich höre, ich habe Hände zur Arbeit und Füße zum Gehen, einen Mund, mit Zunge und Zähnen versehen, und – einen leersten Magen; aber dieser Gott sage mir: Wozu? Wozu Millionen von Erdjahren solche Proprietäten [Besitztümer], die man ja doch nie gebraucht!?

[11.16] Also heraus mit einem so höchst unweisesten Gott! Er stehe mir zur Rede – wenn Er irgend Einer ist –, auf dass Er von mir Weisheit lerne! Aber ich könnte Ihn Ewigkeiten lang herausfordern, so wird Er aber dennoch nicht erscheinen! Warum? Weil Er nicht und keiner ist!“

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Bischof Martin

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