[109.1] Der Martin macht bei dieser Meiner Belehrung an die liebe Chinesin ein überaus fröhliches Gesicht und dankt mir über die Maßen in seinem Herzen.
[109.2] Die Chanchah aber spricht: „O du herrlichster Freund meines Herzens, meines Lebens! Du hast ja freilich wohl nur zu sehr recht in jeglichem Wort, das deinem Mund entstammt. Aber dennoch kann auch die Chanchah nichts dafür, dass sie eines so wissbegierigen Geistes Kind ist. Aber ich, deine arme Chanchah, werde von nun an mein Herz bezähmen und werde sein gleich wie eine Blume des Feldes, die durch Licht und Wärme der Sonne Lamas sich entfaltet und, durch die Tautropfen der Morgenliebe Lamas genährt, endlich auch ihre Fruchtgefäße mit reichem Samen des Lebens füllt.
[109.3] Ach, der große, heilige Lama muss wohl endlos gut, weise und mächtig sein, da alles, was Er gemacht, so übergut und weise eingerichtet ist! Ach, ach, wenn ich nur einmal das endloseste Glück genießen dürfte, Ihn nur von fern hin zu erschauen auf wenige Augenblicke nur! O sage mir, du Herrlichster, werde ich dieses endlos größten Glückes wohl je gewürdigt werden? Wenn es nur einmal geschähe – gleichviel wann –, so will ich mich für alle ewigen Zeitläufe vollkommen zufriedenstellen und will ja alles willig befolgen und tun, das ihr mir nur immer vorschreiben wollt! Aber dazu gebt mir eine gute und gerechte Hoffnung!“
[109.4] Rede Ich: „O du liebes Kindchen du! Ich sehe es schon, dass dir dein Lama am meisten am Herzen liegt. Und das ist überaus löblich von dir. Aber du sagst auch Mir immer – und Ich erkenne es aus deinen Augen und Reden –, dass du Mich auch über die Maßen liebst. Nun möchte Ich denn doch von dir erfahren, ob du Mich oder deinen Lama mehr liebst? Frage darüber dein Herz und sage es Mir dann!“
[109.5] Die Chanchah wird hier sehr verlegen und schlägt die Augen nieder. Ihr Herz aber entzündet sich stets mehr und mehr in der Liebe zu Mir, was sie nur zu mächtig fühlt, daher sie, die sonst nur zu Gesprächige, diesmal mit keiner Antwort zum Vorschein kommt. Nach einer Weile frage Ich sie abermals, ob sie Mir solches nicht kundgeben könne. Da spricht sie, wie mit sehr beklommenem Gemüt:
[109.6] [Chanchah:] „O du mein Augapfel, o du Feueraltar meines Herzens! Siehe, als ich auf der Erde noch zu Hause war, an der Seite meiner Mutter, und ein Mädchen war von etlichen 13 Sonnenjahren, da fragte ich die Mutter, wie man es denn so ganz eigentlich anstellen soll, um den heiligen Lama über alles zu lieben.
[109.7] Da sprach die recht weise Mutter: ‚Höre, du meine geliebteste Tochter! Pflanze du im Garten zwei gleiche Blumen, eine gegen Morgen – diese weihe dem Lama – und die andere gen Abend, und diese weihe den Menschen. Pflege beide gleich und sehe, wie sie wachsen und sich entfalten werden. Wird die Abendblume besser gedeihen als die Morgenblume, so wird das ein Zeichen sein, dass du die Welt mehr liebst als den heiligen Lama. Wirst du aber an den beiden Blumen das Gegenteil bemerken, da ist deine Liebe zum Lama stärker als die zu den Menschen.‘
[109.8] Ich tat sogleich, was mir meine weise Mutter riet. Da ich aber fürchtete, die Blume Lamas möchte etwa vor der der Menschen zurückbleiben, so pflegte ich sie heimlich doppelt mehr als die der Menschen. Aber siehe, ach, trotz meines großen Eifers in der Pflege der Blume Lamas blieb sie dennoch zurück in der Entwicklung!
[109.9] Ich sagte das alles der Mutter, und diese beruhigte mich durch ihre weise Lehre, indem sie sagte: ‚Sieh, du mein liebstes Töchterchen; der Lama hat dir dadurch anzeigen wollen, dass du Ihn, der im ewig unzugänglichen Licht wohnt, nur dadurch über alles lieben kannst, so du die Menschen wie dich selbst liebst. Denn wer diese nicht liebt, die er doch sieht, wie kann er den Lama lieben, den er nicht sieht?‘
[109.10] Darauf begoss ich dann die Abendblume öfter denn die Morgenblume, und siehe, da wucherte die Morgenblume gewaltig vor der Abendblume.
[109.11] Und siehe, geradeso verfahre ich nun! Du bist nun meine Abendblume, und mein Herz für Lama ist die Morgenblume. Dich begieße ich nach aller Kraft, da ich in dir den vollkommensten Menschengeist entdecke, und mein Herz wuchert ganz gewaltig – aber leider nicht mit Lama, sondern mit dir, mit dir!
[109.12] Du bist ein wahrer Lama meines Herzens geworden! Was aber dazu der große Lama seinerzeit sagen wird, das wird auch Er am besten wissen!? Und ich muss dir noch dazu bekennen, dass mir darob sogar mein überaus zartfühlendes Gewissen gar keine Vorwürfe macht! Was sagst du Herrlichster nun aber dazu?“
[109.13] Rede Ich: „Meine geliebteste Chanchah, siehe, Ich habe eine Weile auf diese deine Mein Herz überaus erfreuende Antwort harren müssen. So musst du nun auch ein bisschen warten auf eine recht schöne und gute Antwort. Aber da freue dich, was Ich dir nun erst für eine schönste Antwort geben werde! Sie soll dir bald werden!“
Kein Kommentar bisher