[107.1] Als Ich zur Chanchah von ihren Landsleuten zurückkehre, will sie sogleich zu Mir, und beklagt sich ganz jämmerlich über das Benehmen des Bischof Martin, und wie sie sich nun nimmer auskenne, wie sie mit ihm daran wäre.
[107.2] Da sage Ich zu ihr: „Höre du Meine liebe Chanchah, du setzt aber auch diesem Meinem Bruder auf Brand und Leben zu und bedenkest nicht, welche geheimen Weisungen ihm sehr leicht zu deinem ewigen Besten die äußere Zunge binden können. Daher musst du in der Zukunft mit ihm, als einem Meiner edelsten Freunde, schon ein wenig schonender umgehen, sonst bringst du ihn ja in die größten Verlegenheiten und machst seinem Herzen viel Kummer.
[107.3] Siehe, was deine ersten allfälligen sechs Fragen betrifft, so ist in diesem Freund und Bruder wirklich nichts von alledem anzutreffen, was du von ihm vermutet hast, außer, dass er aus einem sehr weisen Grund notwendig ein wenig verlegen wird, sooft du mit ihm dich von Mir besprechen willst. Aber diese seine Verlegenheit hat einen ganz anderen Grund, als den du je vermuten möchtest. Und somit kann er dir auch keine Antwort geben auf deine Fragen, da in ihnen der wahre Grund seiner Verlegenheit durchaus nicht zugrunde liegt.
[107.4] Was aber deine drei letzten Fragen betrifft, so kann er sie dir eben darum nicht beantworten, weil du den eigentlichen Grund seiner Verlegenheit in deinen ersten Fragen nicht gefordert hast und auch nicht fordern konntest, da du doch selbst ihn nicht kennen konntest. Hätte er dir nun daher was immer für eine bejahende oder verneinende Antwort gegeben, so hätte er dir eine Unwahrheit sagen müssen, was hier im Himmelreich eine barste Unmöglichkeit ist; denn hier kann niemand eine Unwahrheit reden, so er sie auch reden wollte. Daher blieb der Freund Martin, der dich sehr liebt, denn auch stumm und wollte sich von dir eher alles antun lassen, als dich, seine geliebteste Chanchah, nur mit einem Wörtchen zu belügen! War das nicht sehr löblich von ihm?“
[107.5] Spricht die Chanchah, auch etwas verlegen: „Ach, du herrlichster Freund, wenn es so mit diesem unserem Hausherrn sich verhält, dann freilich wohl reut es mich unendlich stark, so ich die Ursache so manches sicher nicht unbedeutenden Schmerzes seines Herzens war. Oh, wenn ich das nur wiedergutmachen könnte!
[107.6] Ja, ja, es schmerzt mich nun ganz außerordentlich! Freilich kann ich wohl auch nicht für all das; denn Du, o mein herrlichster, mächtigster Freund, siehst es ja auch, dass ich ein Fremdling bin, und weiß es nicht, was und wie man hier fragen darf. Da du mir aber nun den Wink gegeben hast, wie man hier fragen darf, so werde ich mich in der Zukunft schon danach richten. Aber nur das sage du mir, warum man denn hier so ganz eigentlich auf eine plump und unklug gegebene Frage, in der kein rechter Antwortsgrund liegt, durchaus keine Antwort bekommen kann?“
[107.7] Rede Ich: „Meine liebste Chanchah, siehe, das ist ganz einfach: Du gäbest Mir einen Sack, fest zugebunden, mit der Bitte: ‚Freund, löse mir den Sack auf, und gebe mir daraus tausend der schönsten Edelsteine!‘ Ich fragte dich aber dann: ‚Weißt du wohl ganz gewiss, dass sich in diesem Sack tausend der schönsten Edelsteine befinden?‘ Du sprächest dann: ‚Nein, das weiß ich nicht bestimmt, sondern vermute es nur!‘
[107.8] Siehe, so Ich aber danebst ganz bestimmt wüsste, dass in dem Sack nicht nur keine Edelsteine, sondern ein verhärteter Unflat sich nur befinde; löste aber dennoch nach deinem Willen den Sack und gäbe dir dessen schmählichen Inhalt anstatt der tausend schönsten Edelsteine; was wohl würdest du dann von Mir halten, so du es dann der Weile nach dennoch erführest, dass Ich – obschon wohlwissend, was der Sack enthalte – dich dennoch also habe deiner Unwissenheit halber beschämen wollen? Würdest du dann nicht sagen: ‚Freund, so du wusstest, was der Sack enthielt, warum löstest du ihn denn und sagtest mir nicht zuvor die Wahrheit?‘
[107.9] Siehe, der gleiche Fall ist hier mit einer unsicheren Frage. Diese ist auch ein Sack, fest zugebunden, den dir der Martin auflösen soll und herausgeben, was du verlangst. So aber das nicht darinnen ist, was du möchtest – sage, was soll er da tun? Soll er den Sack lösen oder nicht? Soll er die beschämen, die er so innigst liebt, die sein ganzes Herz nun in die vollste Beschäftigung versetzt? Was meinst du, holdeste Chanchah?“
[107.10] Spricht Chanchah: „Ach ja, ach ja, mein geliebtester Freund, wann du redest, da freilich kommt mir alles ganz klar vor, und ich sehe die hohe Wahrheit von all dem ein, was du sagst. Aber nicht so ist es, so der Freund Martin redet! Je länger und je mehr er spricht, desto dunkler und unbegreiflicher wird mir dann aber auch alles, von was immer er spricht; und so bin ich dann ja genötigt, stets weiter und weiter, und tiefer und tiefer in ihn zu dringen, durch allerlei Fragen und Fragen, von denen er mir aber auch nicht eine noch ganz bestimmt beantwortet hat.
[107.11] Würde er mir eine Frage nur so ganz bestimmt beantwortet haben, da hätte ich ihn dann sicher um nichts Weiteres gefragt. Oder hätte er es mir, wie du nun, wenigstens gezeigt, wie man hier fragen muss, um eine Antwort zu erhalten; oder ob man hier überhaupt fragen darf! Aber siehe, du mein herrlichster Freund, von all dem aber war beim Martin keine Rede. Daher also magst du und der Martin mich aber auch für entschuldigt halten, so ich mich in meinen dem guten Freund Martin sicher lästig gewordenen Fragen zu weit verirrt hatte.
[107.12] Ach Freund, es ist hier aber auch sonderbar zu sein! Wo man das Auge nur immer hinwendet, so sieht man nichts als Wunder über Wunder. Ach, und das Wunder, von denen die Erde keine Ahnung hat! Wer sollte aber bei solchen Erscheinungen, die er nicht versteht, nicht die Eingeweihteren fragen, was da eines oder das andere bedeute? Wer ist der, der solches tut? So hier der Himmel, wo ist Lama, der ihn gegründet hat? Sage mir, du mein über alles geliebtester Freund, sind das nicht ganz natürliche und durch die wunderlichsten Umstände dieses Seins überaus zu entschuldigende Fragen?!“
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