[101.1] Bei diesen Worten klopft ihn schon die Chanchah auf die Achsel und spricht: „Nun, du Diener Lamas? Wie lange lässt du die arme Chanchah harren auf eine rechte und bestimmte Antwort, nach der sich ihr Herz mächtiger sehnt als ihre Seele nach tausend Leben?!
[101.2] O Freund, so ich hätte tausend Herzen und wäre das schönste Wesen, das je unter den Strahlen der Sonne wandelte, dein sollen alle Herzen sein, und mein schönstes Augenpaar soll nimmer von dir abgewandt werden, so du mir die Wahrheit sagst auf das, was du mir zur Antwort zu geben schuldest. Ich aber habe nur ein Herz; dies eine Herz aber soll dich lieben wie tausend Herzen, so du mir ein wahrer Freund bist und mir zeigst den großen Lama entweder in Worten oder womöglich in der Tat. Aber wehe dir, so du dich wagst zu berücken mein Herz, das dich so unermesslich lieben will!
[101.3] Siehe, es ist wahr, ich liebe jenen, deinen herrlichsten Bruder, mit einer dir unbegreiflichen Glut. Aber alle diese Glut soll dir zugewandt sein, so du mir ein wahrer Freund sein willst und sein kannst! Auf mein Wort kannst du bauen fester denn auf diamantene Felsen!“
[101.4] Martin ist ob solcher Rede ganz verdutzt und sieht die ganz unbegreiflich schönste Chinesin wie versteinert an, und denkt und simuliert, was er nun tun oder reden soll. Nach einer ziemlich langen Weile sagt er zu ihr:
[101.5] [Bischof Martin:] „O du gar zu überholdeste und zu außerordentlich schönste Chanchah! Siehe, wärst du nicht gar so unbegreiflich schön, ich hätte schon so manches gesagt. Aber so ich dich ansehe, da bin ich ja rein weg vor Verwunderung und Liebe zu dir und kann nicht reden. Ich muss es dir daher offen gestehen, dass ich so lange zu dir nicht viel Gescheites werde reden können, bis sich meine Augen deinen Anblick mehr werden angewöhnt haben.
[101.6] Du hast freilich leicht reden und drohen auch; denn mein Anblick wird dich sicher nicht verwirren. Aber mir geht es ganz absonderlich schlecht mit meiner Zunge, so sie von deiner zu großen Schönheit rein vernichtet wird und dadurch gänzlich erlahmt, so ich mit dir reden soll. Daher musst du schon ein bisschen Geduld mit mir haben. Nach und nach wird sich schon alles machen, so ich mich, wie gesagt, deiner Schönheit mehr werde angewöhnt haben.“
[101.7] Spricht die Chanchah: „Wenn das der Grund ist, da sage mir, wie es dir denn nur möglich war, mit mir so gut als möglich geordnet zu reden und mir einen rein aus der Luft gegriffenen Grund aufzutischen, darum du mit mir über das Gefragte nicht reden kannst?
[101.8] Siehe, dem die Liebe die Zunge bindet, der redet wie ein Betrunkener und stottert und seine Rede hat keinen Sinn. Denn eine verlegene Zunge hat keine Wurzeln, die aus der Quelle der Weisheit ihre Bewegung saugen. Deiner Zunge Wurzeln aber sind voll der regsamsten Feuchte. Daher rechtfertige dich vor meinem Herzen wie ein Mann, aber nicht wie ein losester Schalk! Was ich dir sage, ist so wahr wie mein innerstes Leben. Wie kannst du da nur aus deiner Haut und nimmer aus deinem Herzen zu mir reden?“
[101.9] Bischof Martin ist nun noch verlegener und weiß nun keine Silbe irgend ausfindig zu machen, um seiner schönen Gegnerin zu begegnen. Er fängt daher wirklich allerlei Wort- und Silbenwerk zu stottern an, dahinter kein Sinn zu entdecken ist. Je länger er so stottert, desto größere Augen macht die Chanchah und schmunzelt mitunter auch so ganz mitleidig. Nach einer Weile, als ihr des Martin Stotterei schon zu toll wird, spricht sie:
[101.10] [Chanchah:] „Freund, ich bedauere dich; denn du bist entweder ein schlauer Fuchs oder ein dummer Esel – eines schlechter als das andere! Ich halte dich aber dennoch mehr fürs letzte denn fürs erste. Und das entschuldigt auch deine frevelhafte Angabe, als seist du auch ein Diener des großen Lama. Wahrlich, so Sich Lama solcher Diener bedienen würde, da wäre Er samt solcher Seiner Diener sehr zu bedauern!
[101.11] Siehe, ich habe von dir ehedem wohl so einige ziemlich weise Worte vernommen und dachte wirklich, du wärst im Ernst etwas Höheres, was zu glauben mich auch deine prahlende Hauptbedeckung zwang, wie auch, dass du jenen wahrhaft Weisen deinen Bruder nanntest. Aber nun bin ich über dich ganz im Klaren! Du bist ein sogenannter guter Esel, der hier im Himmelreich bloß vegetiert, weil er auf der Erde wohl sicher zu dumm war, je eine Sünde zu begehen. Und so bist du wohl so eine gutmütige Eselsseele, die niemandem was zuleide tut und als ein Geschöpf Lamas auch alle Achtung verdient. Aber man kann von dir nicht mehr verlangen, als was der große Lama in deine Natur gelegt hat. Du wirst mir aber auch vergeben, dass ich von dir mehr haben wollte, als was von dir zu haben ist! Ich erlasse dir sonach aber auch jede ehedem von dir verlangte Beantwortung!
[101.12] O du armer Esel du, wie leid tut es mir nun, dich so geängstet zu haben! Du hast hier freilich wohl die Menschengestalt, die im Geisterreich etwa alle Tiere bekommen, weil sie alle nur verwunschene Menschen der freilich dümmsten Art seien. Aber darum bist du dennoch, was du sicher auf der Erde warst. Sei daher nur wieder gut, du mein armer, dummer Esel! Wie leid tut es mir nun, dass ich dir ehedem menschliche und wohl gar himmlische Weisheit zugemutet habe! Gelt ja, du mein lieber Esel, du nimmst es mir nicht für übel?“
[101.13] Bischof Martin sieht nun ganz springgiftig aus und möchte der Chinesin sehr gerne so recht derb ums Maul fahren, wie man zu sagen pflegt. Aber weil er sich dadurch der lästigen Beantwortung enthoben sieht, so schluckt er alle diese Komplimente hinab und entfernt sich so ganz bescheiden von seiner Chanchah, die ihn aber dennoch nicht aus den Augen lässt.
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