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103. Das zwölfte Gebot – die Nächstenliebe. Gerechte und ungerechte Nächstenliebe

(Am 8. November 1843 von 4 1/2 – 6 1/2 Uhr abends.)

[2.103.1] Wir sind darin und erblicken hier in der Mitte dieses großen und prachtvollen Saales ebenfalls wieder eine Sonnentafel und in der Mitte derselben mit rotleuchtender Schrift geschrieben: „Dies ist dem ersten gleich, dass du deinen Nächsten liebst wie dich selbst; darinnen ist das Gesetz und die Propheten.“ – Da dürfte sogleich jemand aufstehen und sagen: Wie soll das zu verstehen sein: den Nächsten wie sich selbst lieben? Denn die Sichselbst- oder Eigenliebe ist ein Laster, somit kann die gleichförmige Nächstenliebe doch auch nichts anderes als ein Laster sein, indem die Nächstenliebe auf diese Weise die Selbst- oder Eigenliebe ja offenbar als Grund aufstellt. Will ich als ein tugendhafter Mensch leben, so darf ich mich nicht selbst lieben. Wenn ich mich aber nicht selbst lieben darf, so darf ich ja auch den Nächsten nicht lieben, indem das Liebeverhältnis zum Nächsten dem Eigenliebeverhältnis als vollkommen gleichlautend entsprechen soll. Demnach hieße ja „den Nächsten wie sich selbst lieben“ den Nächsten gar nicht lieben, weil man sich selbst auch nicht lieben soll.

[2.103.2] Seht, das wäre schon so ein gewöhnlicher Einwurf, welchem zu begegnen es freilich nicht gar zu schwerfallen dürfte, indem eines jeden Menschen Eigenliebe so viel als sein eigenes Leben selbst ausmacht, so versteht sich in diesem Grad die natürliche Eigenliebe von selbst, denn keine Eigenliebe haben, hieße so viel als kein Leben haben!

[2.103.3] Es handelt sich hier demnach zu erkennen den Unterschied zwischen der gerechten und ungerechten Eigenliebe.

[2.103.4] Gerecht ist die Eigenliebe, wenn sie nach den Dingen der Welt kein größeres Verlangen hat, als was ihr das reiche Maß der göttlichen Ordnung zugeteilt hatte, welches Maß in dem siebten, neunten und zehnten Gebot hinreichend gezeigt wurde. Verlangt die Eigenliebe über dieses Maß hinaus, so überschreitet sie die bestimmten Grenzen der göttlichen Ordnung und ist beim ersten Übertritt schon als Sünde zu betrachten. Also nach diesem Maßstab ist demnach auch die Nächstenliebe einzuteilen; denn so jemand einen Bruder über dieses Maß hinaus liebt, so treibt er mit seinem Bruder oder mit seiner Schwester Abgötterei und macht ihn dadurch nicht besser, sondern schlechter.

[2.103.5] Früchte solcher übermäßigen Nächstenliebe sind zumeist alle die heutigen und allzeitigen Beherrscher der Völker. Wieso denn? Irgendein Volk hat einen aus seiner Mitte wegen seiner mehr glänzenden Talente über das gerechte Maß hinaus geliebt, machte ihn zum Herrscher über sich und musste sich’s hernach gefallen lassen, von ihm oder wenigstens von seinen Nachkommen für diese Untugend gar empfindlich gestraft zu werden.

[2.103.6] Man wird hier sagen: Aber Könige und Fürsten müssen ja doch sein, um die Völker zu leiten, und sie seien von Gott Selbst eingesetzt. – Ich will dagegen nicht geradewegs verneinend auftreten, aber beleuchten die Sache, wie sie ist und wie sie sein sollte, will ich hier bei dieser Gelegenheit.

[2.103.7] Was spricht der Herr zum israelitischen Volk, als es einen König verlangte? Nichts anderes als: „Zu allen Sünden, die dieses Volk vor Mir begangen hat, hat es auch diese größte hinzugefügt, dass es, mit Meiner Leitung unzufrieden, einen König verlangt“. – Aus diesem Satz lässt sich, meine ich, hinreichend erschauen, dass die Könige von Gott aus dem Volk nicht als Segen, sondern als ein Gericht gegeben werden.

[2.103.8] Frage: Sind Könige notwendig an der Seite Gottes zur Leitung der Menschheit? Diese Frage kann mit derselben Antwort beantwortet werden wie eine andere Frage, welche also lautet: Hat der Herr bei der Erschaffung der Welt und bei der Erschaffung des Menschen irgendeines Helfers vonnöten gehabt?

[2.103.9] Frage weiter: Welche Könige und Fürsten helfen dem Herrn zu jeder Zeit wie gegenwärtig, die Welten in ihrer Ordnung zu erhalten und sie auf ihren Bahnen zu führen? Welchen Herzog braucht Er für die Winde, welchen Fürsten für die Ausspendung des Lichtes und welchen König zur Überwachung des unendlichen Welten- und Sonnenraumes? Vermag der Herr ohne menschlich fürstliche und königliche Beihilfe den Orion zu gürten, dem Großen Hund seine Nahrung zu reichen und all das große Welten- und Sonnenvolk in unverrücktester Ordnung zu erhalten, sollte Er da hernach wohl vonnöten haben, bei den Menschen dieser Erde Könige und Fürsten einzusetzen, die Ihm in Seinem Geschäft überhelfen sollten?

[2.103.10] Gehen wir auf die Urgeschichte eines jeden Volkes zurück, und wir werden es finden, dass ein jedes Volk uranfänglich eine rein theokratische Verfassung hatte, das heißt, sie hatten keinen anderen Herrn über sich als Gott allein. Erst mit der Zeit, als hier und da Völker mit der höchst freien und allerliberalsten Regierung Gottes unzufrieden wurden, weil es ihnen unter solcher zu gut ging, da fingen sie sich gegenseitig an zu viel zu lieben. Und gewöhnlich war irgendein Mensch besonderer Talente halber der allgemeinen Liebe zum Preis. Man verlangte ihn zum Führer. Aber beim Führer blieb es nicht, denn der Führer musste Gesetze geben, die Gesetze mussten sanktioniert werden, und so ward aus dem Führer ein Herr, ein Gebieter, ein Patriarch, dann ein Fürst, ein König und ein Kaiser.

[2.103.11] Also sind Kaiser, Könige und Fürsten von Gott aus nie erwählt worden, sondern nur bestätigt zum Gericht für diejenigen Menschen, die zufolge ihres freien Willens solche Kaiser, Könige und Fürsten aus ihrer Mitte erwählt hatten und haben ihnen eingeräumt alle Gewalt über sich.

[2.103.12] Ich meine, es wird diese Beleuchtung hinreichen, um einzusehen, dass jedes Übermaß sowohl der Eigen- als der Nächstenliebe vor Gott ein Gräuel ist.

[2.103.13] Den Nächsten sonach wie sich selbst lieben heißt: den Nächsten in der gegebenen göttlichen Ordnung lieben, d. h. in jedem gerechten Maße, welches von Gott aus einem jeden Menschen vom Urbeginn an zugeteilt ist. Wer solches noch nicht gründlich einsehen möchte, dem will ich noch ein paar Beispiele hinzufügen, aus denen er klar ersehen kann, welche Folgen das eine wie das andere Übermaß mit sich bringt.

[2.103.14] Nehmen wir an, in irgendeinem Dorf lebt ein Millionär. Wird dieser das Dorf beglücken, oder wird er es ins Unglück stürzen? Wir wollen sehen. Der Millionär sieht, dass es mit den öffentlichen Geldbanken schwankt; was tut er? Er verkauft seine Obligationen und kauft dafür Realitäten, Güter. Die Herrschaft, zu der er früher nur ein Untertan war, befindet sich in großen Geldnöten, wie gewöhnlich. Unser Millionär wird angezogen, der Herrschaft Kapitalien zu leihen. Er tut es gegen gute Prozente und auf die sichere Hypothek der Herrschaft selbst. Seine Nachbarn, die anderen Dorfbewohner, brauchen auch Geld. Er leiht es ihnen ohne Anstand auf grundbücherliche Intabulation. Die Sache geht etliche Jahre fort. Die Herrschaft wird immer unvermögender und seine Dorfnachbarn nicht wohlhabender. Was geschieht? Unser Millionär packt zuerst die Herrschaft, und diese, im Besitz von keinem Groschen Geldes mehr, muss sich auch auf Gnade und Ungnade ergeben, bekommt höchstens aus lauter Großmut ein Reisegeld, und unser Millionär wird Herrschaftsinhaber und zugleich Herr von seinen ihm schuldenden Nachbarn. Diese, weil sie ihm weder Kapital noch Interessen zu zahlen imstande sind, werden bald abgeschätzt und exequiert.

[2.103.15] Hier haben wir die ganz natürliche Folge des Glückes, welches ein Millionär oder ein Besitzer des Übermaßes der Eigenliebe den Dorfbewohnern bereitet hat. Mehr braucht man darüber nicht zu sagen. Gehen wir aber auf den zweiten Fall über.

[2.103.16] Es lebt irgendwo eine überaus dürftige Familie. Sie hat kaum so viel, um ihr tägliches Leben allerkümmerlichst zu fristen. Irgendein überaus reicher und auch überaus selten wohltätiger Mann lernt diese arme, aber sonst brave und schätzenswerte Familie kennen. Er, im Besitz von mehreren Millionen, erbarmt sich dieser Familie und denkt also bei sich: Ich will diese Familie auf einmal wahrhaft zum Schlagtreffen glücklich machen. Ich will ihr eine Herrschaft schenken und noch obendrauf ein ansehnliches Vermögen von einer halben Million, und will dabei die Freude haben, zu sehen, wie sich die Gesichter dieser armen Familie ganz sonderlich aufheitern werden. – Er tut es, wie er beschlossen. Eine ganze Woche lang werden in der Familie nichts als Freudentränen vergossen, auch dem lieben Herrgott wird manches „Gott sei Dank“ entgegengesprochen.

[2.103.17] Betrachten wir diese beglückte Familie aber nur ungefähr ein Jahr später, und wir werden an ihr allen Luxus so gut entdecken, als er nur immer in den Häusern der Reichen zu Hause ist. Diese Familie wird zugleich auch hartherziger und wird sich nun an allen jenen so inkognito zu rächen bemüht sein, die sie in ihrer Not nicht haben ansehen wollen. Das „Gott sei Dank“ wird verschwinden, aber dafür werden Equipage, livrierte Bediente u. dgl. m. eingeführt.

[2.103.18] Frage: Hat dieses gewaltige Übermaß der Nächstenliebe dieser armen Familie genützt oder geschadet? Ich meine, hier braucht man nicht viel Worte, sondern nur mit den Händen nach all dem Luxus zu greifen, und man wird es auf ein Haar finden, welchen Nutzen diese Familie fürs ewige Leben durch ein an ihr verübtes Übermaß der Nächstenliebe empfangen hat. Aus dem aber wird ersichtlich, dass die Nächstenliebe sowie die Eigenliebe stets in den Schranken des gerechten göttlichen Ordnungsmaßes zu verbleiben hat.

[2.103.19] Wenn der Mann sein Weib über die Gebühr liebt, da wird er sie verderben. Sie wird eitel, wird sich hochschätzen und wird daraus eine sogenannte Kokette, und der Mann wird kaum Hände genug haben, um überall hinzugreifen, dass er die Anforderungen seines Weibes befriedigt.

[2.103.20] Auch ein Bräutigam, wenn er seine Braut zu sehr liebt, wird sie dreist und am Ende untreu machen.

[2.103.21] Also ist das gerechte Maß der Liebe allenthalben vonnöten. Aber dennoch besteht die Nächstenliebe in etwas ganz anderem, als wir bis jetzt haben kennengelernt. Worin aber innerer geistiger Weise die Nächstenliebe besteht, das wollen wir im Verfolge dieser Mitteilung ganz klar erkennen lernen.

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