(Am 3. November 1843 von 4 1/2 – 6 1/2 Uhr abends.)
[2.100.1] Ich sehe einen, der da kommt und spricht: Es wäre ja schon alles recht, aber wie sollte man dieses eine göttliche Wort an Gott Selbst realisieren? Wie sollte man denn so ganz eigentlich Gott lieben, und das noch obendrauf über alles? Sollte man in Gott etwa also verliebt sein, als wie verliebt da ist ein junger Bräutigam in seine allerschönste und reichste Braut? Oder sollte man in Gott also verliebt sein, als wie verliebt da ist ein Mathematiker in eine mathematische Berechnung oder ein Astronom in seine Sterne? Oder sollte man also verliebt sein wie ein Spekulant in seine Ware oder ein Kapitalist in sein Geld oder wie ein Herrschaftsbesitzer in seine Herrschaften oder auch wie ein herrschender Monarch in seinen Thron? Das sind die einzig möglichen Maßstäbe ernster menschlicher Liebe, denn der Kinder Liebe zu ihren Eltern kann man nicht füglich als einen ernsten Maßstab der Liebe aufstellen, indem das Beispiel lehrt, dass Kinder ihre Eltern verlassen können, um entweder irgendeine gute Heirat zu machen oder irgend viel Geld zu gewinnen. Bei all dem tritt die Liebe der Kinder zu ihren Eltern zurück und muss notwendig einer mächtigeren Platz machen. Daher sind hier nur die mächtigsten Maßstäbe der menschlichen Liebe angeführt, und da fragt es sich, nach welchem soll man so eigentlich die Liebe zu Gott bemessen?
[2.100.2] Wenn aber nun jemand kommt und spricht: Nach diesem oder jenem, da sage ich als der Einwender: Freund! Das kann nicht sein.
[2.100.3] Es ist wahr, die von mir angeführten mächtigsten Liebemaßstäbe sind wohl die einzigen, wonach des Menschen größte Liebekraft bemessen werden kann; aber es heißt ja, man solle Gott über alles lieben, was so viel sagen will als: mehr, als alles in der Welt.
[2.100.4] Da fragt es sich, wie es anfangen, wie die Liebe zu einer Potenz erheben, von der sich kein menschlicher Geist einen irgend messbaren oder vergleichbaren Begriff machen kann? Man wird etwa sagen: Man solle Gott noch mehr lieben als sein eigenes Leben. – Da sage ich, der Einwender: Mit der Liebe des eigenen Lebens hält die allerhöchste Liebe zu Gott noch weniger irgendeinen Vergleich aus als die Liebe der Kinder zu ihren Eltern. Denn es gehört schon viel dazu, dass die Kinder ihr Leben aus Liebe zu ihren Eltern aufs Spiel setzen, im Gegenteil haben sie es lieber, so die Eltern für sie auf Leben und Tod kämpfen.
[2.100.5] Sonach erscheint die Eigenliebe der Kinder gegenüber der Liebe zu ihren Eltern nicht selten bei weitem mächtiger. Aber wir sehen andererseits, dass die Kinder der Menschen für andere Vorteile überaus häufig ihr Leben beinahe verachtend aufs Spiel setzen. Der eine segelt stürmische Nächte hindurch über den Ozean, ein anderer stellt sich vor die feuernde Front der feindlichen Armee, ein dritter begibt sich nicht selten in lockere Abgründe der Erde, um sich aus derselben metallene Schätze zu holen. Und so sehen wir, dass diese äußeren weltlich-ernsten Maßstäbe menschlicher Liebe sicher kräftiger sind und eine allgemeinere Geltung haben als die Liebe der Kinder zu ihren Eltern und die Liebe zum eigenen Leben.
[2.100.6] Aber was nützen alle diese Maßstäbe, wenn über sie kräftig hinaus die Liebe zu Gott auf einer solchen Potenz stehen soll, gegen die alle anderen Liebemaßstäbe ins reine Nichts zurücksinken sollen? Seht, meine lieben Freunde und Brüder, unser Einwender hat uns scharf angegriffen, und wir werden uns recht kräftig auf die Hinterbeine stellen müssen, um gegen den Einwender das Übergewicht zu gewinnen.
[2.100.7] Aber ich sehe soeben wieder einen ganz ernstlich aussehenden Gegenkämpfer. Dieser tritt seines Sieges ganz sicher auf und spricht: Oh, mit diesem Einwender werden wir bald fertig werden, denn dazu hat uns der Herr ja Selbst den ausdrücklichen Maßstab gegeben, wie man Gott lieben soll. Ich brauche daher nichts anderes zu sagen, als was der Herr Selbst gesagt hat, nämlich: „Wer Meine Gebote hält, der ist es, der Mich liebt“. – Das ist somit der eigentliche Maßstab, wie man Gott lieben soll.
[2.100.8] Wenn der Einwender genug scharfe und starke Zähne hat, so soll er da noch versuchen, irgendeine andere non plus ultra [unübertreffliche] Liebeswage aufzustellen. Gut, sage ich, der Einwender ist noch zur Seite und macht sehr starke Miene, diesen Einwurf ein wenig zu zerbeißen. Wir wollen ihn daher auch ein wenig anhören und sehen, was alles er hervorbringen wird. Er spricht:
[2.100.9] Gut, mein lieber, freundlicher Gegner! In der Aufstellung deiner Einwendung hast du mir gegenüber zum Maßstab der höchsten Liebe zu Gott nicht viel mehr bewiesen als ein ziemlich festes Gedächtnis, dem du so manche Texte aus der hl. Schrift zu danken hast. Aber siehe, wer aus all den Texten einen lebendigen Nutzen ziehen will, der muss nicht nur wissen, wie sie lauten, sondern er muss in sich lebendig verstehen, was sie sagen wollen.
[2.100.10] Was würdest denn du sagen, so ich dir eben aus dem Munde des Herrn Selbst gesprochen nicht nur einen, sondern mehrere schnurgerade Gegensätze aufstellen würde, laut denen der Herr Selbst die Liebe aus der Erfüllung des Gesetzes als nicht genügend darstellt? Du machst zwar jetzt ein Gesicht, als möchtest du sagen: Dergleichen Texte dürften in der Schrift doch wohl etwas karg ausgestreut sein. – Ich aber erwidere dir: Lieber Freund, durchaus nicht. Höre mich nur an, ich will dir gleich mit einem halben Dutzend, so du es willst, aufwarten. Höre mich nur an!
[2.100.11] Ist dir bekannt das Gespräch des Herrn mit dem reichen Jüngling? Fragt nicht dieser: „Meister, was soll ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ – Was antwortet ihm da der Herr? Du sprichst gewisserart triumphierend: Der Herr spricht: „Halte die Gebote und liebe Gott, so wirst du leben!“ – Gut, sage ich, was spricht aber der Jüngling? Er spricht: „Meister, das habe ich von meiner Kindheit an gehalten“.
[2.100.12] Das ist alles richtig. Warum aber, frage ich, hat der Jüngling diese Antwort dem Herrn gegeben? Er wollte Ihm dadurch sagen: Trotzdem, dass ich das alles von meiner Kindheit an gehalten habe, so verspüre ich aber dennoch nichts von dem wunderbaren ewigen Leben in mir.
[2.100.13] Warum erklärt der Herr nun darauf dem Jüngling die Haltung der Gebote zur Erreichung des ewigen Lebens nicht als genügend, sondern macht sogleich einen sehr gewaltigen Zusatz, indem Er spricht: „So verkaufe alle deine Güter, verteile sie unter die Armen und folge Mir nach!“
[2.100.14] Frage, wenn der Herr also Selbst einen solchen Zusatz macht, genügen da als höchste Liebe zu Gott die beobachteten Gesetze? Siehe, da hat es schon einen Haken, gehen wir aber weiter!
[2.100.15] Was spricht einmal der Herr zu Seinen Aposteln und Jüngern, als Er ihnen die zu erfüllenden Pflichten vorstellt und anpreist? Er spricht nichts anderes als bloß die einfachen, sehr bedeutungsvollen Worte: „Wenn ihr aber alles getan habt, da bekennt, dass ihr faule und unnütze Knechte seid“.
[2.100.16] Ich frage dich nun: Erklärt hier der Herr die Haltung der Gebote als genügend, indem Er doch offenbar erklärt, dass sich ein jeder das Gesetz vollkommen erfüllende Mensch als völlig unnütz betrachten solle? Siehe, da wäre der zweite schon etwas gewaltigere Haken. Aber nur weiter!
[2.100.17] Kennst du dasjenige Gleichnis von dem Pharisäer und Zöllner im Tempel? Der Pharisäer gibt sich frohen Gewissens selbst vor dem Heiligtum das treue Zeugnis, dass er, wie gar viele nicht, das Gesetz Moses in seinem ganzen Umfang allzeit genauest, also vollkommen buchstäblich erfüllt habe. Der arme Zöllner rückwärts in einem Winkel des Tempels aber gibt durch seine ungeheuer demütige Stellung jedem Beobachter überaus getreu zu erkennen, dass er eben mit der Haltung des Mosaischen Gesetzes nicht gar viel muss zu schaffen gehabt haben, denn seiner Sünden gar wohl inne, getraut er sich nicht einmal zum Heiligtum Gottes hinaufzublicken, sondern bekennt selbst seine Wertlosigkeit vor Gott und bittet Ihn um Gnade und Erbarmen.
[2.100.18] Da möchte ich denn doch wohl wissen von dir, du mein lieber textkundiger Freund, warum, wenn das Gesetz genügt, der Herr hier den das ganze Gesetz streng beobachtenden Pharisäer als ungerechtfertigt und den armen sündigen Zöllner als gerechtfertigt aus dem Tempel gehen lässt?
[2.100.19] Sehe, wenn man das so recht beim Licht betrachtet, so scheint es, als hätte der Herr da mit der alleinigen Haltung des Gesetzes schon wieder Selbst einen dritten sehr bedeutenden Haken gemacht. Du zuckst nun schon mit den Achseln und weißt nicht mehr, wie du daran bist. Mache dir aber nichts daraus, es soll schon noch besser kommen! Also nur weiter.
[2.100.20] Was möchtest du denn sagen, wenn ich dir aus der Schrift, also aus dem Munde des Herrn Selbst einen Text anführen möchte, laut welchem Er das ganze Gesetz indirekt als völlig ungültig erklärt und setzt dafür ein ganz anderes vehiculum [Fahrzeug] auf, durch welches Er Selbst einzig und allein die Gewinnung des ewigen Lebens verbürgt?
[2.100.21] Du sprichst nun: Guter Freund, diesen Text möchte ich auch hören. – Sollst ihn gleich haben, mein lieber Freund! Was spricht einmal der Herr, als Er ein Kind am Weg fand, es aufnahm, herzte und koste? Er spricht: „So ihr nicht werdet wie dieses Kind, so werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen!“
[2.100.22] Frage: Hat dieses Kind, das noch kaum einige Worte zu lallen imstande war, die Gesetze Moses je studiert und dann sein Leben streng danach gerichtet? Auf der ganzen Welt gibt es sicher keinen so dummen Menschen, der so etwas behaupten könnte. Frage demnach: Wie konnte der Herr hier als höchstes Motiv zur Gewinnung des ewigen Lebens ein Kind aufstellen, das mit dem ganzen Gesetz Moses noch nie ein Jota zu tun hatte? Freund, ich sage hier nichts weiter als: So es dir beliebt, so mache mir darüber eine einwendliche Erörterung. Du schweigst. So ersehe ich, dass du mit deiner Aufstellung bei diesem vierten Haken schon so ziemlich tief dich in den Hintergrund zurückgezogen hast. Mache dir aber noch immer nichts daraus; denn es soll schon noch besser kommen!
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