(Am 25. Oktober 1843 von 4 3/4 – 5 1/2 abends.)
[2.94.1] Im Gesetz heißt es: „Du sollst nicht verlangen deines Nächsten Weib“. Lässt sich denn da nicht fragen: Wer ist denn so ganz eigentlich der Du? Ist er ein Verheirateter, ein Witwer, ein unverheirateter junger Mann, ein Jüngling, oder ist es etwa gar auch ein Weib, zu dem man doch auch sagen kann: Du sollst dies oder jenes nicht tun? – Man wird hier sagen: Das ist vorzugsweise fürs männliche Geschlecht bestimmt, ohne Unterschied, ob dasselbe ledig oder verheiratet ist; und dass die Weiber so mitlaufend auch miteinverstanden werden können und nicht das Recht haben sollen, andere Männer zu verlocken und zu begehren, das alles versteht sich von selbst.
[2.94.2] Ich aber sage dagegen: Wenn aber schon die Menschen ihre Satzungen gar fein zu bestimmen imstande sind und in eben ihren Satzungen für jeden möglichen Fall gar feine und kluge Sonderungen machen, so wird man gegenüber dem Herrn doch nicht den Vorwurf machen können, als hätte Er fürs Erste gar aus Unkunde ganz unbestimmt ausgedrückte Gesetze gegeben, oder Er hätte fürs Zweite gleich einem pfiffigen Advokaten Seine Gesetze also auf Schrauben gestellt, dass die Menschen darüber unvermeidlich sich so oder so versündigen müssen.
[2.94.3] Ich meine, eine solche Folgerung aus der näheren Betrachtung des freilich wohl ganz unbestimmt gegeben scheinenden Gesetzes zu machen, wäre denn doch etwas zu arg. Man kann daher viel leichter schließen, dass dieses Gesetz, wie alle übrigen, ein sicher höchst bestimmtes ist. Nur ist es mit der Zeit und ganz besonders in der Zeit des entstandenen Hierarchentums also verdreht und fälschlich ausgelegt worden, dass nun kein Mensch mehr den eigentlichen wahren Sinn dieses Gesetzes kennt. Und das ist geschehen aus purer Habsucht. Denn im eigentlichen reinen Sinne hätte dieses Gesetz dem Priesterstand nie einen Pfennig getragen, in seinem verdeckten Sinn aber gab es Anlass zu allerlei taxierten Vermittlungen, Dispensen und Ehescheidungen, und das natürlich in der früheren Zeit bei weitem ums Unvergleichliche mehr als jetzt. Denn da war die Sache also gestellt, dass zwei oder mehrere Nachbarn sich gegen die Versündigung an diesem Gesetz durchaus nicht verwahren konnten. Wie denn?
[2.94.4] Sie mussten natürlicherweise mehrere Male im Jahr aus übergroßer Furcht vor der Hölle gewissenhaft beichten. Und da wurden sie in diesem Punkt gar emsig examiniert, und es war, im Falle irgendein Nachbar ein schönes junges Weib hatte, schon sogar ein Gedanke, ein Blick, etwa gar eine Unterredung von Seiten der anderen Nachbarn, natürlich männlicherseits, als eine ehebrecherische Sünde gegen dieses Gebot erklärt, welche meistens mit einer Opferbuße belegt ward. Geschah irgend gar eine etwas stärkere Annäherung, so war auch schon die volle Verdammnis fertig, und der einmal auf der einen Waagschale St. Michaels in die Hölle Hinabgesunkene musste in die gegenüber ganz leere Waagschale sehr bedeutende Opfer werfen, damit diese die Überschwere bekamen und den armen verdammten Sünder andererseits wieder glücklich aus der Hölle herauszogen. Und die Gottes Macht innehabenden Priester gehörten da durchaus nicht unter diejenigen Partien, welche nur sehr vieles verlangen, sondern sie wollten im Ernst lieber alles!
[2.94.5] Denn auf diese Weise mussten einst viele sehr wohlhabende sogenannte Ritter und Grafen ins Gras beißen und noch obendrauf zur aus der Hölle erlösenden Buße ihre Güter der Kirche vermachen, bei welcher Gelegenheit dann ihre allenfalls zurückgebliebenen Weiber zur Sühnung der Strafe für ihren ungetreuen Mann in irgendein Kloster aufgenommen wurden. Und die allenfalls zurückgebliebenen Kinder sowohl männlicher als weiblicherseits sind dann auch gewöhnlich in solche Klöster eingeteilt worden, in denen man keine irdischen Reichtümer besitzen darf.
[2.94.6] Ich meine, es dürfte genug sein, um das wirklich Schmähliche einzusehen, was alles aus der Verdrehung dieses Gesetzes zum Vorschein kam. Und das bestimmte „Du“ des Gesetzes war die Urquelle zu Dispensen, welche gewöhnlich am meisten eingetragen haben. Hatte jemand ein großes Opfer gebracht, so konnte man das Du so modifizieren, dass der Sünder wenigstens nicht in die Hölle kam. Im Gegenteil aber konnte dieses Du auch so verdammlich bestimmt werden, und das zufolge der angemaßten Löse- und Bindegewalt, dass dem Sünder nur sehr bedeutende Opfer aus der Hölle behilflich in der Erlösung sein konnten.
[2.94.7] Wir haben jetzt gesehen, zu welchen Abirrungen das unbestimmte Du Gelegenheit gegeben hat. Wir wollen uns aber damit noch nicht begnügen, sondern noch einige solche lächerliche Auslegungen mehr betrachten, damit es daraus jedem umso klarer wird, wie notwendig für jedermann die Bekanntschaft mit dem reinen Sinn des Gesetzes ist, ohne den er nie frei werden kann, sondern stets sklavisch verbleiben muss unter dem Fluch des Gesetzes! Und so gehen wir weiter.
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