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85. Betrachtung des achten Gebots. Wie Geister lügen können

(Am 11. Oktober 1843 von 4 3/4 – 6 Uhr abends.)

[2.85.1] Wir sind im achten Saal und sehen allda wieder auf der uns aus allen früheren Sälen wohlbekannten Rundtafel mit deutlicher Schrift gezeichnet: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben“ – oder was ebenso viel sagt: Du sollst nicht lügen!

[2.85.2] Es klingt dieses Gebot im Reich der reinen Geister wohl sonderbar, indem ein Geist in seinem reinen Zustand aller Lüge unfähig ist. Denn ein Geist kann unmöglich anders sprechen, als wie er denkt, indem der Gedanke schon sein Wort ist. Und der Geist im reinen Zustand kann darum auch keine Unwahrheit über seine Lippen bringen, weil er ein einfaches Wesen ist und in sich keinen Hinterhalt haben kann.

[2.85.3] Der Lüge ist sonach nur ein unreiner Geist fähig, wenn er sich mit einer Materie umhüllt. Ist aber ein Geist, auch von unreiner Beschaffenheit, seiner gröberen Umhüllung ledig, so kann er eben auch keine Unwahrheit von sich bringen.

[2.85.4] Aus diesem Grunde umhüllen sich denn auch die argen Geister mit allerlei groben Truggestalten, um in dieser Umhüllung lügen zu können.

[2.85.5] Also musste sich auch der bekannte Satan im Paradies vor dem ersten Menschenpaar mit der materiellen Gestalt einer Schlange umhüllen, auf dass er dadurch in sich einen Hinterhalt bekam und hernach anders denken und anders sprechen konnte.

[2.85.6] Aus diesem alleinigen Grunde sind auch die Menschen auf Erden imstande zu lügen so oft sie wollen, weil sie in ihrem Leib einen Hinterhalt haben und können von diesem aus die Maschine des Leibes gerade in entgegengesetzter Richtung gegen dem bewegen, wie sie denken.

[2.85.7] Solches jedoch, wie bemerkt, ist den reinen Geistern nicht möglich. Sie können zwar wohl, so sie gegen irdische Menschen sich äußern, in Entsprechungen sich kundgeben und sagen dann auch nicht selten ganz etwas anderes, als was der innere Sinn ihrer Rede darstellt. Aber das heißt nicht lügen, sondern das heißt nur die geistige Wahrheit in irdische Bilder legen, welche dieser Wahrheit genau entsprechen.

[2.85.8] Wir sehen aber aus dem, dass dieses Gebot für die Geister gar nicht taugt, indem sie ganz bestimmt der Fähigkeit zu lügen gänzlich ermangeln.

[2.85.9] Für wen aber gilt hernach dieses Gebot? Ich weiß, man wird mit der Antwort bald fertig werden und sagen: Es gilt für die mit Materie umhüllten Geister und gebietet ihnen, ihre Umhüllung nicht anders zu gebrauchen, als wie in ihnen ihr Denken und aus demselben hervorgehendes Wollen im reingeistigen Zustand beschaffen ist.

[2.85.10] Wir wissen aber, dass dieses Gebot, so gut wie alle früheren, von Gott, als dem Urgrund alles Geistigen, ausgeht. Als solches aber kann es unmöglich nur eine materielle und nicht auch zugleich eine geistige Geltung haben.

[2.85.11] Um der Sache aber so ganz recht auf den Grund zu kommen, müssen wir erörtern, was eigentlich unter „Lügen“ oder „falsches Zeugnis geben“ zu verstehen ist. Was ist denn hernach die Lüge oder ein falsches Zeugnis in sich selbst? Ihr werdet sagen: Eine jegliche Unwahrheit ist das. – Ich aber frage: Was ist denn eine Unwahrheit? – Da dürfte wohl auch jemand mit der Antwort bald fertig werden und sagen: Jeder Satz, welchen der Mensch ausspricht, um dadurch jemanden zu täuschen, ist eine Unwahrheit, eine Lüge, ein falsches Zeugnis. – Es ist dem außen nach alles gut, aber nicht also dem innen nach. Wir wollen dafür eine kleine Probe aufstellen.

[2.85.12] Frage: Kann der Wille denken? Ein jeder Mensch muss solches verneinen, indem er offenbar sagen muss: Der Wille verhält sich zum Menschen wie das Zugvieh zum Wagen. Dieses zieht wohl kräftig denselben; aber wo wird es den Wagen hinbringen ohne den denkenden Fuhrmann?

[2.85.13] Weiter frage ich: Kann der Gedanke wollen? Kehren wir zum Fuhrwerk zurück. Kann der Fuhrmann bei dem besten Verstand ohne Zugkraft der Lasttiere den schweren Wagen von der Stelle bringen? Ein jeder muss hier sagen: Da können tausend der gescheitesten Fuhrleute neben dem schwer belasteten Wagen alle möglichen philosophischen Grundsätze aufstellen, und dennoch werden sie mit all diesen Prachtgedanken den Wagen so lange nicht von der Stelle bringen, bis sie in ihren Gedanken nicht darin übereinkommen, dass vor dem Wagen eine verhältnismäßige Zugkraft angebracht werden muss.

[2.85.14] Aus diesem Beispiel aber haben wir nun gesehen, dass der Wille nicht denken, und dass der Gedanke nicht wollen kann. Sind aber Gedanke und Wille vereint, so kann der Wille doch nur das tun, wozu ihn der Gedanke leitet.

[2.85.15] Nun aber frage ich weiter: Wenn es sich mit der Sache so verhält, wer kann denn dann lügen aus dem Menschen? Der Wille sicher nicht, denn dieser ist ein Etwas, welches sich allzeit nach dem Licht des Gedankens richtet. Kann der Gedanke lügen? Sicher nicht, er ist einfach und kann sich nicht teilen. Aber der Leib wird etwa lügen können im Menschen? Wie aber etwa der Leib lügen könnte als eine für sich tote Maschine, welche nur durch den Gedanken und Willen des Geistes durch die Seele zur Tätigkeit angeregt wird, das wäre wirklich überaus merkwürdig irgend in Erfahrung zu bringen.

[2.85.16] Ich entdecke aber soeben einen Psychologen, und zwar aus der Klasse der geistigen Dualisten, dieser spricht: Die Seele des Menschen ist auch ein sich selbst bewusstes denkendes Wesen und denkt zum Teil aus den naturmäßigen und zum Teil aus den geistigen Bildern. Und so können sich in ihr gar wohl zweierlei Arten von Gedanken bilden, nämlich naturmäßige und geistige. Sie kann daher wohl die geistigen in sich denken, da ihr aber auch der Wille zur Disposition dasteht, so kann sie anstatt der auszusprechenden sein sollenden Wahrheit oder des geistigen Gedankens den naturmäßigen, der geistigen Wahrheit ganz entgegengesetzten Gedanken aussprechen. Und tut sie das, so lügt sie oder gibt ein falsches Zeugnis. Was meint ihr wohl, ist dieser Schluss richtig?

[2.85.17] Den Anschein von Richtigkeit hat er wohl, für den äußeren Menschen genommen betrachtet, aber im Grunde des Grundes ist er dennoch falsch; denn was würde da wohl für eine Tätigkeit zum Vorschein kommen, wenn man zur Fortschaffung etwa eines Wagens vorne sowie rückwärts gleich viele und gleich starke Zugpferde und daneben auch Fuhrleute zur Leitung der Pferde anspannen und anstellen möchte?

[2.85.18] Wie hier der Wagen nie von der Stelle gebracht würde, also möchte es doch wohl auch mit dem Leben eines Menschen aussehen, wenn dasselbe auf zwei sich entgegengesetzte lebendige Prinzipien sich gründen möchte. Das wäre gerade so viel wie plus 1 und minus 1, welches addiert gleich nichts gibt.

[2.85.19] Es muss also nur ein lebendes Prinzip sein; wie aber kann dieses lügen und falsches Zeugnis geben?

[2.85.20] Entweder kann dieses eine Prinzip, wie erwiesen, gar nicht lügen und falsches Zeugnis geben, oder unter dem Begriff „lügen“ und „falsches Zeugnis geben“ muss gründlichermaßen etwas ganz anderes verstanden werden, als was bisher verstanden wurde.

[2.85.21] Da sagt freilich jemand: Wenn die Sache so zu nehmen ist, so ist eine jede uns bekannte Lüge, jeder falsche Eid, wie auch jeder Wortbetrug als unsündhaft und frei gang und gäbe zu betrachten. Gut, sage ich, die Einwendung wäre so übel nicht, aber nach eurem Sprichwort: „Wer zuletzt lacht, der lacht am besten“ werden wir uns auch ein ähnliches Vergnügen auf den Schluss vorbehalten.

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