(Am 2. Oktober 1843 von 4 1/2 – 6 Uhr abends.)
[2.81.1] Man könnte hier sagen, indem es im sechsten Gebot nur heißt: „Du sollst nicht Unkeuschheit treiben“, dass da die Hurerei nicht als verboten angesehen werden kann, indem es im sechsten Gebot nirgends heißt: Du sollst nicht Hurerei treiben. – Ich aber sage: Was ist die Hurerei, welcher Art sie auch sein mag, geistig oder fleischlich? Sie ist eine sichere Anbequemung des Lasters, und zwar auf folgende Weise: Man philosophiert sich über sündigende Möglichkeit hinaus, setzt alle Erscheinungen in das Gebiet natürlicher Bedürfnisse. Wenn nun jemandem seine eigene Wesenheit die Forderung kundgibt, sie zu befriedigen, so tut der Mensch zufolge seines Verstandes und seiner Erfindungskraft ja nur etwas Lobenswertes und Ersprießliches, so er für alle zu fordernden Bedürfnisse seiner Natur Mittel zustande bringt, durch welche denselben Genüge geleistet werden kann. Das Tier muss zwar seine Bedürfnisse in der rohesten instinktmäßigen Art befriedigen, weil es keinen Verstand, keine Vernunft und keinen Erfindungsgeist hat. Dadurch aber erhebt sich ja eben der Mensch über das gemein naturmäßig Tierische, dass er allen den Anforderungen seiner Art auf eine raffinierte Weise Genüge leisten kann.
[2.81.2] Wer kann einem Menschen zur Sünde rechnen, so er sich mit Hilfe seines Verstandes ein stattliches Haus zur Bewohnung erbaut, und somit ein ehemaliges Erdloch oder einen hohlen Baum mit demselben vertauscht? Wer kann einem Menschen zur Sünde anrechnen, wenn er sich einen Wagen erbaut, das Pferd zähmt, und dann viel bequemer eine Reise macht als mit seinen eigenen schwachen, leidigen Füßen? Wer ferner kann noch dem Menschen zum Fehler anrechnen, so er sich die Naturfrüchte zu seiner Nahrung kocht und würzt und sie ihm wohlschmeckender macht? Oder sind die Dinge in der Welt für wen anderen als für den Menschen erschaffen worden, damit er sie zweckdienlich benützen sollte?
[2.81.3] Wie viel Schönes und Nützliches hat der Mensch entdeckt zu seiner Bequemlichkeit und zu seiner Erheiterung? Sollte ihm das zum Fehler angerechnet werden, so er durch seinen Verstand seinem Schöpfer Ehre macht, ohne den der Weltkörper so unkultiviert dastände wie eine barste Wüste, auf der alles durcheinanderwüchse in der schönsten chaotischen Ordnung wie Kraut, Rüben und Brennnesseln?
[2.81.4] Wenn aber dem Menschen die verschiedenartige Kultivierung des Erdbodens doch unmöglich zu einem Fehler angerechnet werden kann, obschon sie in sich durchaus nichts anderes Zweckdienliches enthält als die angenehmere und bequemere Genießung der Dinge in der Welt; so wird doch andererseits auch ein raffinierter Zeugungsgenuss dem Menschen auch mitnichten können zum Fehler angerechnet werden, indem sich sonst selbst der gebildete Mensch in diesem Akt am wenigsten von dem Tier unterschieden hat. Also auch dieser Trieb des Menschen muss auf eine veredeltere und raffiniertere Weise befriedigt werden können, und das aus demselben Grunde, aus welchem man sich bequeme Wohnhäuser erbaut, weiche Kleider verfertigt, geschmackvolle Speisen bereitet, u. dgl. Annehmlichkeiten mehr.
[2.81.5] Man nehme nur den Fall, ein Mensch gebildeten Standes hat zu seiner Befriedigung die Wahl zwischen zwei Weibspersonen, die eine ist ein schmutziges ganz verwahrlostes, gemeines Bauernmensch, die andere aber ist ein wohlerzogenes, sehr nett gekleidetes, am ganzen Leibe makelloses und sonst üppiges und reizendes Mädchen, als die Tochter eines ansehnlichen Hauses. Frage: Wonach wird der gebildete Mann greifen? Die Antwort wird hier kein Kopfbrechen brauchen; sicher nur nach Nr. 2, denn vor Nr. 1 wird es ihm ekeln. Also ist auch hier eine Raffinerie sicher am zweckdienlichsten Platze, weil der Mensch durch sie beurkundet, dass er ein höheres Wesen ist, welches alles Unangenehme und Schmutzige zu reinigen und angenehmer darzustellen die volle Macht und Kraft in sich hat.
[2.81.6] Da aber der Mann wie das Weib in dieser Hinsicht ein öfteres Bedürfnis sich zu befriedigen in sich mächtig wahrnehmen, wobei man doch nicht allzeit die Anforderung machen kann, in optima forma ein Kind zu erzeugen, wird es da wider die Gebühr der Ausübung seiner Verstandeskräfte sein, wenn er da die Mittel aufstellt, durch welche die Befriedigung dieses Triebes zuwege gebracht werden kann, sei es nur durch den blinden Beischlaf mit den Weibern oder durch Selbstbefriedigung oder im Notfall durch die sogenannte Knabenschändung? Denn dadurch unterscheidet sich ja eben auch der Mensch von dem Tier, dass er eben auch diesen am meisten naturmäßigen Trieb auf anderen Wegen befriedigen kann als gerade auf jenen nur, auf die er von der rohen Natur primo loco [an erster Stelle] angewiesen wurde. Und sonach sind ja ganz besonders wohlkonditionierte Bordellhäuser und dergleichen Anstalten mehr zu billigen, und können dem Verstand des Menschen keineswegs zur Unehre, sondern nur zur Ehre gereichen.
[2.81.7] Seht, was lässt sich, naturmäßig betrachtet, allem dem entgegen einwenden? Denn das ist richtig, dass das Tier dergleichen Kultivierungen und allerlei Nuancierungen in der Befriedigung seines Geschlechtstriebes nimmer zuwege bringen kann; und so ist darin gewisserart eine Meisterschaft des menschlichen Verstandes unleugbar zu entdecken. Das ist alles richtig, das Tier hat in allem dem seine Zeit, außer welcher es ganz stumpf für die Befriedigung dieses Triebes bleibt.
[2.81.8] Aber was ist alle diese Raffinierung? Das ist eine kurze Frage, aber ihre Beantwortung ist groß und gewichtig. Diese Raffinierung hat doch sicher nichts anderes zum Grundmotiv als die entsetzlich leidige Genusssucht. Die Genusssucht aber, wissen wir, ist ein unverkennbares Kind der Eigenliebe, welche aber mit der Herrschliebe ganz identisch einhergeht.
[2.81.9] Es ist wahr, in einem stattlichen Haus lässt sich angenehmer wohnen denn in einer niedrigen Erdhütte. Betrachten wir aber die Einwohner! Wie stolz und hochtrabend sehen wir den Bewohner eines Palastes einhergehen, und wie völlig zerknirscht beugt sich der schlichte Hüttenbewohner vor einem solchen glänzenden Palastherrn!
[2.81.10] Betrachten wir die Bewohner einer großen Stadt und dagegen die eines niedrigen Bauerndorfes. Die Bewohner der großen Stadt wissen sich aus lauter Genusssucht nicht zu helfen, alles will angenehm leben, alles sich unterhalten, alles glänzen und womöglich ein bisschen herrschen. Kommt ein solcher armer Landbewohner in die große Stadt, so muss er wenigstens einen jeden Stiefelputzer etc. „Euer Gnaden“ anreden, will er sich nicht irgendeiner Grobheit aussetzen.
[2.81.11] Gehen wir aber ins Dorf, da werden wir noch Hausväter antreffen, nicht selten friedliche Nachbarn, welche sich nicht „Euer Gnaden“ und „Herr von“ titulieren. Was ist da wohl vorzuziehen, wenn ein Bauer zum anderen spricht: „Bruder!“ oder wenn in der Stadt ein nur ein wenig Bemittelter zu einem etwas mehr Bemittelten „Euer Gnaden“ und „Herr von“ und dgl. mehr spricht?
[2.81.12] Ich meine, es wird kaum nötig sein, dergleichen unsinnige Raffinierungsgeburten des menschlichen Verstandes noch weiter zu verfolgen, sondern wir können sogleich den Hauptspruch machen: Alle solche genusssüchtigen Verfeinerungen sind nach der vorangehenden Betrachtung nichts als Abgöttereien; denn sie sind Opfer des menschlichen Geistes an die äußere tote Naturmäßigkeit.
[2.81.13] Sind sie aber Abgöttereien, so sind sie auch die barste Hurerei, und dass sie nicht in die Sphäre der Keuschheit aufgenommen werden können, beweist ihre Tendenz.
[2.81.14] Warum ward Babel eine Hure genannt? Weil dort alle erdenkliche Raffinerie zu Hause war. Also heißt auch „die Hurerei treiben“ im vollkommensten Sinne: der Unkeuschheit dienen nach aller Lebenskraft. Und so ist ein reicher Ehemann, der sich ein üppiges und geiles Weib genommen hat des alleinigen Genusses wegen, nichts mehr und nichts weniger als ein barster Hurer und dessen Weib eine barste Hure. Und ebenso wird auch hier diesen Kindern die Unkeuschheit in ihrem Fundament gezeigt, wie sie nämlich ist eine allerbarste Selbst- und Genusssucht.
[2.81.15] Es war notwendig, dieses Gebot für euch um desto gründlicher zu beleuchten, weil sich der Mensch eben über keines so leicht hinwegsetzt wie über dieses. Ich meine daher, dass ihr nun auch diesen Vortrag versteht; und so wollen wir uns denn auch sogleich in den siebten Saal begeben.
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