(Am 29. September 1843 von 4 1/4 – 6 Uhr nachmittags.)
[2.79.1] Hier erblicken wir wieder eine Tafel in der Mitte des Saales, und auf der Tafel steht mit deutlich leserlicher Schrift geschrieben: „Du sollst nicht Unkeuschheit treiben, nicht ehebrechen“. Unverkennbar ist dies das sechste Gebot, welches der Herr durch Moses dem israelitischen Volk gegeben hatte. Dieses Gebot ist sicher in seiner Grundbedingung eines der schwierigsten zu erfassen und es dann auch genau im Lebensgrund zu beobachten.
[2.79.2] Was wird denn eigentlich durch dieses Gebot verboten? Und wen geht dieses Gebot überhaupt an, den Geist, die Seele oder den Leib? Wer soll da aus diesen drei Lebenspotenzen nicht Unkeuschheit treiben? Das wäre eine Frage. Was aber ist so ganz eigentlich die Unkeuschheit und was der Ehebruch? Ist die Unkeuschheit der gegenseitige Begattungsakt? Wenn das der Fall ist, so ist auf jede Zeugung durch dieses Gebot Beschlag gelegt; denn wir finden in dem einfachen Gebot durchaus keine bedingnisweise Ausnahme gestellt; es heißt einmal: „Du sollst nicht Unkeuschheit treiben“.
[2.79.3] Wenn also der Akt der Begattung gewisserart als der Kulminationspunkt der Unkeuschheit angesehen wird, so möchte ich selbst denjenigen kennen, der unter der gegenwärtigen Gestalt der Dinge auf der Erde eine Zeugung ohne diesen verbotenen Akt bewerkstelligen möchte. Ob jetzt in der Ehe oder nicht in der Ehe, der Akt ist derselbe. Ob er wirklich in kinderzeuglicher Absicht begangen wird oder nicht, er ist derselbe. Zudem hat das Gebot selbst keine Bedingung in sich, durch welche eine geregelte Ehe von der Unkeuschheit ausgenommen wäre.
[2.79.4] Andererseits betrachtet aber muss doch jedem Menschen einleuchtend sein, dass es dem Herrn an der Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts vorzugsweise gelegen ist und an einer weisen Erziehung desselben. Auf welchem Wege aber sollte sich das Menschengeschlecht fortpflanzen, wenn ihm der Zeugungsakt bei Strafe des ewigen Todes verboten ist? Ich meine, das kann ein jeder Mensch mit den Händen greifen, dass es hier offenbar einen Haken hat.
[2.79.5] Dazu aber muss noch ein jeder sich notgedrungen selbst das Zeugnis geben, dass sicher bei keinem zu haltenden Gebot die Natur dem Menschen allgemein so mächtige Prügel unter die Füße wirft, über die er stolpern muss, als eben bei diesem. Ein jeder Mensch, wenn seine Erziehung einigermaßen geordnet war, findet gar keinen Anstand, oder höchstens einen sehr geringen nur, in der Haltung der übrigen Gebote; aber bei diesem Gebot macht die Natur allzeit einen kräftigen Strich selbst durch die Rechnung eines Apostels Paulus!
[2.79.6] Offenbar sehen wir eine Interdiktion der fleischlichen Lust, welche mit dem Zeugungsakt unzertrennlich verbunden ist. Liegt also das Verbot nur an der fleischlichen Lust und nicht zugleich auch an dem Zeugungsakt, so fragt es sich, ob von dem ordnungsmäßigen Zeugungsakt die fleischliche Lust zu trennen ist? Wer aus euch kann solches erweisen und behaupten, die beiden gesetzlich geordneten Ehegatten empfänden beim Zeugungsakt nicht auch die zeitliche Lust? Oder wo ist dasjenige Gattenpaar, das da nicht wenigstens zur Hälfte wäre durch die bevorstehende fleischliche Lust zum Zeugungsakt aufgefordert worden?
[2.79.7] Wir sehen aber nun daraus, dass wir mit diesem Gebot hinsichtlich der Unkeuschheit in Anwendung auf den leiblichen Zeugungsakt durchaus nicht aufkommen können. Denn entweder muss es einen reinen Zeugungsakt geben, der mit der Fleischeslust nichts zu tun hat, oder, wenn sich ein solcher Akt nicht erweisen lässt, der fleischliche Zeugungsakt nicht unter diesem Gesetz stehen und als eine freiwillkürliche, straflose Handlung des Menschen angesehen werden muss. Denn solches ist schon bemerkt, dass sich das Gesetz ganz schonungslos und aller ausnahmsweisen Bedingung ledig ausspricht.
[2.79.8] Das notwendige Bestehen der Menschen aber spricht sich laut gegen das Verbot dieses Aktes aus, sowie die allzeit schonungslos begehrende Natur. Denn da mag jemand sein, wes Standes er will, so wird er davon nicht freigesprochen, wenn er zu seiner Reife gelangt ist. Er müsste sich denn verstümmeln lassen und seine Natur töten, sonst tut es sich wenigstens in seiner Begierlichkeit dazu auf keinen Fall, wenn er auch durch äußere Umstände von der Aktivität abgehalten wird.
[2.79.9] Also mit dem Fleisch tut es sich auf keinen Fall. Vielleicht geht dieses Gesetz allein die Seele an? Ich meine, da die Seele durchaus das lebende Prinzip des Leibes ist und die freie Aktion desselben rein nur von der Seele abhängt, ohne welche das Fleisch völlig tot ist, so dürfte es denn doch wohl schwerlich einen so Supergelehrten irgendwo geben, der da im Ernst behaupten könnte, die Seele habe mit den freien Handlungen des Leibes nichts zu tun.
[2.79.10] Der Leib ist ja doch sicher nur das Werkzeug der Seele, künstlich eingerichtet zu ihrem Gebrauch; was soll es demnach mit einem Gebot allein für den Leib, der an und für sich eine tote Maschine ist? Wenn jemand mit einer Hacke einen ungeschickten Hieb gemacht hat, war da wohl die Hacke schuld oder seine Hand? Ich meine, solches wird doch niemand behaupten wollen, dass hier der Hacke der ungeschickte Hieb zuzuschreiben sei.
[2.79.11] Ebenso wenig kann man auch den Zeugungsakt als eine sündige Handlung dem Leib zuschreiben, sondern allein nur dem handelnden Prinzip, das hier die lebendige Seele ist. Also muss aber auch unsere bisherige kritische Beleuchtung dieses Gebotes bloß nur der Seele gelten, welche im Fleisch denkt, will und handelt; und so ist eben die Seele nach dem vorlaufenden Kriterium notwendig frei von diesem Gebot. Also mit der Seele geht es auch nicht; so wird es doch mit dem Geist gehen. Wir wollen sehen, was sich der Geist wird abgewinnen lassen.
[2.79.12] Was ist denn der Geist? Der Geist ist das eigentliche Lebensprinzip der Seele, und die Seele ist ohne den Geist nichts als ein substantiell ätherisches Organ, welches wohl zur Aufnahme des Lebens alle Fähigkeit besitzt, ist aber ohne den Geist nichts als ein substantiell-geistig-ätherischer Polyp, der seine Arme fortwährend nach dem Leben ausbreitet und alles einsaugt, was seiner Natur zuspricht.
[2.79.13] Die Seele also ohne den Geist ist bloß eine stumme polarische Kraft, welche den stumpfen Sinn nach der Sättigung in sich trägt, aber selbst keine Urteilskraft besitzt, daraus ihr klar würde, womit sie sich sättigt und wozu ihr die Sättigung dient. Sie ist zu vergleichen mit einem Erzkretin, der keine andere Begierde in sich verspürt als diejenige, sich zu sättigen. Womit und warum? Davon hat er keinen Begriff. Wenn er einen großen Hunger verspürt, so frisst er, was ihm unterkommt, ob Unrat oder ob Brot oder eine barste Kost für Schweine, das ist ihm gleich.
[2.79.14] Seht, dasselbe ist die Seele ohne den Geist. Und diese angeführten Kretins haben eben auch bloß nur ein seelisches Leben, wo in der Seele entweder ein zu schwacher Geist oder oft auch wohl gar kein Geist vorhanden ist. Dass aber solches sicher der Fall ist, [dazu] braucht ihr nichts als einen Blick nur in die Welt der finsteren Geister zu werfen; was sind diese? Sie sind nach dem Tode fortlebende Seelen, die bei Leibesleben auf die leichtsinnigste und oft böswilligste Weise ihren Geist in sich so sehr geschwächt und niedergedrückt haben, dass er ihnen in solchem Zustand kaum die allerkargst gemessene Lebensregung zu verschaffen imstande ist, bei der aber alle Lebensvorteile nicht selten im ewigen Hintergrund bleiben müssen!
[2.79.15] Wie aber gebärden sich solche Wesen jenseits gegenüber den seligen lebendigen Geistern? Nicht anders als pure Trottel, also geistige Kretins, in aller Weise noch missgestaltet obendrauf, so zwar, dass nicht selten von einer menschlichen Gestalt nicht die allerleiseste Spur mehr zu entdecken ist. Diese Wesen sind in der Geisterwelt in ihrer Handlungsweise so wenig mehr zurechnungsfähig, als es ein Kretin oder Trottel ist, [woraus aber nun hervorgeht, dass nicht die Seele an und für sich, sondern nur im Besitz des Geistes, dem allein das freie Wollen innewohnt, zurechnungsfähig ist,] im Grunde also nur der Geist.
[2.79.16] Wenn aber das nun evident erwiesen ist, so fragt sich: Wie und auf welche Weise kann denn der absolute Geist Unkeuschheit treiben? Kann der Geist fleischliche Begierden haben? Ich meine, einen größeren Widerspruch dürfte es doch kaum geben als den, so sich jemand wollte im Ernst einen fleischlichen Geist denken, der notgedrungenermaßen materiell sein müsste, um selbst grobmaterielle Begierden in sich zu haben.
[2.79.17] Wenn aber schon ein Arrestat an seinem Arrest sicher nicht das größte Wohlbehagen findet, so wird umso mehr der absolute Geist noch eine desto geringere Passion haben, sich mit seinem freiesten Wesen mit der groben Materie auf immer zu verbinden und an derselben seine Lust zu finden. In diesem Sinne ist also ein Unkeuschheit treibender Geist doch sicher der größte Unsinn, den je ein Mensch aussprechen kann. Nun fragt sich demnach: Was ist die Unkeuschheit, und wer soll dieselbe nicht treiben, indem wir gesehen haben, dass sowohl der Leib, die Seele und der Geist für sich nicht Unkeuschheit treiben können, so wie wir sie bisher kennen?
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