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78. Belehrung über das fünfte Gebot

(Am 28. September 1843 von 4 1/2 – 5 1/2 Uhr nachmittags.)

[2.78.1] Ihr seht in diesem fünften Saal abermals eine Tafel angebracht, und auf dieser steht es mit wohlleserlicher Schrift geschrieben: „Du sollst nicht töten“. Wenn ihr dieses Gebot nur einigermaßen beim Licht betrachtet und dazu die Geschichte des israelitischen Volkes mit in den Augenschein nehmt, so müssten eure Augen mit mehr als dreifachem Star behaftet sein, wenn ihr es nicht auf den ersten Augenblick ersehen würdet, dass es mit diesem Gebot einen sonderbaren Haken hat. „Du sollst nicht töten!“ Wie, wo, wann und was denn?

[2.78.2] Was heißt „töten“ überhaupt? Heißt töten bloß den Leib lebensuntätig machen oder heißt es den Geist seiner himmlischen Lebenskraft berauben? Ist das Töten bloß auf den Leib des Menschen gesetzlich beschränkt, da kann die Tötung des Geistes doch unmöglich darunter gemeint sein; denn es heißt ja eben, dass gewisserart ein jeder Mensch sein Fleisch töten solle, um gegenüber den Geist zu beleben, wie da auch der Herr Selbst spricht: „Wer sein Leben, d. h. das Leben des Fleisches, liebt, der wird es verlieren; wer es aber flieht um Meinetwillen, der wird es erhalten“.

[2.78.3] Ingleichen zeigt sich dieses auch in der Natur der Dinge. Wird bei einer Frucht die äußere Rinde oder Hülse nicht zum Sterben gebracht, so wird die Frucht zu keinem lebendigen Keim kommen. Also geht aber aus allem dem hervor, dass eine Tötung des Fleisches nicht zugleich auch eine Tötung des Geistes sein kann. Wird aber unter diesem Gesetz bloß nur die Tötung des Geistes verstanden, wer ist dann wohl sicher mit seinem Leibesleben?

[2.78.4] Im Gegenteil aber ist es auch zugleich jedermann bekannt, dass die besonders in gegenwärtiger Zeit überaus vielfach vorkommenden Belebungen des Fleisches nichts als Tötungen des Geistes sind. Betrachtet ihr gleich daneben die Geschichte des israelitischen Volkes, dem da gewisserart, wie ihr zu sagen pflegt, diese Gesetze frisch gebacken gegeben wurden, so findet ihr den merkwürdigen Kontrast, dass der Gesetzbringer Moses selbst zuerst eine Menge Israeliten hat töten lassen; und seine Nachfolger mussten mit den am Gesetz sich Verschuldenden das Gleiche tun.

[2.78.5] „Du sollst nicht töten“ – dieses Gesetz lag so gut wie alle anderen in der Bundeslade. Was tat aber das ganze israelitische Heer, als es ins Gelobte Land einzog, mit den früheren Bewohnern dieses Landes? Was tat selbst David, der Mann nach dem Herzen Gottes? Was der größte Prophet Elias? Seht, sie töteten alle, und das sehr vielfach und oft so ziemlich grausam noch obendrauf.

[2.78.6] Wer da aus euch nüchternen und unbefangenen Geistes ist, muss der nicht in sich selbst das Urteil aussprechen und sagen: Was ist das für ein Gebot, wider das, wie sonst über gar keines, selbst die ersten von Gott gestellten Propheten zu handeln genötigt waren?

[2.78.7] Ein solches Gebot ist ja doch so gut wie gar keines. Auch in unseren Zeiten ist das Töten der Brüder im Krieg sogar eine Ehrensache! Ja, der Herr Selbst tötet Tag für Tag Legionen von Menschen dem Leib nach; und doch heißt es: „Du sollst nicht töten!“ Und David musste sogar einen Heerführer umbringen lassen, da er gegen einen zu vernichtenden Ort, freilich wohl meineidig, schonend sich benommen hatte.

[2.78.8] Gut, sage ich, so steht es mit dem Gebot auf der Erde. Hier aber sehen wir es im Reich der Himmel, wo fürs Erste kein Wesen mehr das andere töten kann, und fürs Zweite auch sicher nie jemand auch nur den allerleisesten Gedanken, jemanden zu töten, in sich fassen wird. Wozu steht es also hier auf der Tafel geschrieben? Etwa aus bloß rein historischer Rücksicht, damit die Schüler hier erlernen sollen, was es auf der Erde für Gebote gibt und gegeben hat? Oder sollen fürs Zweite etwa diese allergutmütigsten Kindergeister dieses Gebotes wegen auf eine Zeit lang in eine Mordlust versetzt werden und diese dann gegenüber dem Gesetz in sich selbst bekämpfen? Das könnte man zwar annehmen; aber welchen Schluss oder welches Endresultat wird man daraus bekommen? Ich sage euch nichts anderes als: Wenn die Mordlust den Kindern am Ende doch wieder benommen werden muss, so sie sich als Mordlustige dem Gesetz gegenüber als vollkommen genügend bewährt haben, so muss man ja eben auch annehmen, dass sie dabei weder was gewonnen noch verloren haben würden, so sie nie wären mit der Mordlust erfüllt gewesen.

[2.78.9] Ich sehe aber, dass bei dieser gründlichen Darstellung der Sache ihr nun selbst nicht wisst, was ihr so ganz eigentlich aus diesem Gebot machen sollt. Ich aber sage euch: Sorgt euch nicht; wenige Worte werden genügen, um euch alles bisher Zweifelbare ins klarste Licht zu stellen, und das Gesetz wird gleich würdig wie auf der Erde also auch im Himmel wie eine Sonne am Himmel strahlen!

[2.78.10] Damit ihr aber die nachfolgende Erklärung leicht und gründlich fasst, so mache ich euch bloß nur darauf aufmerksam, dass nämlich in Gott die ewige Erhaltung der geschaffenen Geister die unwandelbare Grundbedingung aller göttlichen Ordnung ist. Wisst ihr nun das, so blickt auf das Gegenteil, nämlich auf die Zerstörung; und ihr habt das Gebot geistig und körperlich bedeutungsvoll vor euch.

[2.78.11] Sagt demnach anstatt: Du sollst nicht töten – du sollst nicht zerstören, weder dich selbst, noch alles das, was deines Bruders ist; denn die Erhaltung ist das ewige Grundgesetz in Gott Selbst, demzufolge Er ewig ist und unendlich in Seiner Macht. Da aber auf der Erde auch des Menschen Leib bis zur von Gott bestimmten Zeit für die ewig dauernde Ausbildung des Geistes notwendig ist, so hat ohne ein ausdrückliches Gebot Gottes niemand das Recht, eigenwillig weder seinen eigenen Leib noch den seines Bruders zu zerstören.

[2.78.12] Wenn hier also von der gebotenen Erhaltung die Rede ist, da versteht es sich aber dann auch schon von selbst, dass jedermann noch weniger berechtigt ist, den Geist seines Bruders wie auch seinen eigenen durch was immer für Mittel zu zerstören und für die Erlangung des ewigen Lebens untüchtig zu machen. Gott tötet freilich wohl tagtäglich der Menschen Leiber; aber zur rechten Zeit, wenn der Geist entweder auf die eine oder die andere Weise irgendeine Reife überkommen hat. Auch die Engel des Himmels, als fortwährende Diener Gottes, erwürgen in einem fort der Menschen Leiber auf Erden; aber nicht eher, als bis sie vom Herrn den Auftrag haben, und dann nur auf diejenige Art und Weise, wie es der Herr haben will.

[2.78.13] Sonach aber erlernen auch die Kinder hier auf geistig praktischem Weg, worin die Erhaltung der geschaffenen Dinge besteht und wie sie vereint mit dem Willen des Herrn stets auf das Allersorglichste muss gehandhabt werden. Und wenn ihr dieses nun nur einigermaßen begriffen habt, so wird es sicher einleuchtend sein, fürs Erste die große Würde dieses Gesetzes selbst zu erschauen, und fürs Zweite, warum es hier auch im Reich der himmlischen Kindergeister vorkommt. Da wir aber solches wissen, so können wir uns auch sogleich in den sechsten Saal begeben.

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