Hier ist Dein Kapitel

77. Belehrung über das vierte Gebot

(Am 26. September 1843 von 5 – 6 Uhr nachmittags.)

[2.77.1] Das vierte Gebot, wie ihr es auf der Erde habt, lautet: „Ehre Vater und Mutter, auf dass du lange lebst und es dir wohlgehe auf Erden“. Dieses Gebot ist so gut göttlichen Ursprunges wie die ersten drei. Was gebietet es aber und was verheißt es? Nichts anderes als den Gehorsam der Kinder gegen ihre Eltern und für diesen Gehorsam eine zeitliche Vergünstigung.

[2.77.2] Kann da nicht jedermann fragen und sagen: Wie? Ein göttliches Gebot sanktioniert sich bloß nur durch zeitliche Verheißungen und hat nichts Ersichtliches im Hintergrund, darin ewige geistige Vorteile geboten würden? Was liegt wohl an solch einer zeitlichen Vergünstigung? Was liegt am Wohlleben, was am langen Leben, wenn hinter demselben nichts Höheres folgt?

[2.77.3] Es ist wahr: Gut und lange leben ist besser als kurz und schlecht. Wenn aber am Ende des Lebensabschnitts der unwirtliche Tod erscheint, welchen Vorzug hat das gute und lange Leben vor dem schlechten und kurzen? Ich meine, dazu braucht man eben kein Fundamental-Mathematiker zu sein, um sagen zu können: Der Unterschied läuft überall in eine reine Null aus; denn der Erste überkommt so gut wie der Zweite ein allerbestes Nichts, und er fragt sich dann wenig darum, wie der Weg zu diesem Empfang beschaffen war, ob gut oder schlecht.

[2.77.4] Also wäre denn, nach diesem Maßstab betrachtet, das vierte Gebot auf einem sehr schlüpfrigen Grund basiert, und die Eltern wären fürwahr übel daran, so ihre Kinder mit solcher Philosophie schon auf die Welt geboren würden, und die Kinder selbst würden bei solcher Betrachtung wenig Grund finden, ihren Eltern zu gehorchen. Ferner lässt sich noch über dieses Gebot folgende kritische Betrachtung anstellen. Wie das Gebot klingt, so hat es nur eine zeitliche Basis, also bloß nur die Pflicht der Kinder gegen ihre Eltern darstellend.

[2.77.5] Es fragt sich demnach: Was soll es denn mit diesem Gebot hier im Geisterreich, wo die Kinder hier ihren Eltern auf Erden auf ewig enthoben sind? Sind sie aber ihrer Eltern enthoben, da werden sie doch sicher auch der irdischen Pflicht gegen sie enthoben sein; und dennoch bemerken wir hier in diesem vierten Saal dieses Gebot auf der Tafel gezeichnet. Soll es etwa für diese Kinder auf den Herrn bezogen werden? Das ließe sich allerdings hören, wenn nur darunter nicht der Verheißungssatz stände: „Auf dass du lange lebst und es dir wohlgehe auf Erden“. Stünde es: „Auf dass du ewig lebst und es dir wohlgehe im Himmel“, da wäre eine solche Transversion des Gesetzes gar überleicht zu verstehen; aber eine zeitliche Verheißung im ewigen Reich der Geister klingt denn doch etwas sonderbar.

[2.77.6] Was meint ihr wohl, was sich hier wird tun lassen, um diesem Gesetz ein vollgegründetes göttliches Ansehen zu verschaffen? Ihr zuckt da freilich mit den Achseln und sagt so ganz leise in euch: Lieber Freund und Bruder! Wenn es hier auf unsere Erörterung ankommt, da wird es mit der reingeistig göttlichen Sphäre dieses Gesetzes einen bedeutenden Haken haben; denn nach obiger Betrachtung lässt sich da mit so leichter Mühe als man glaubt, eben nicht gar zu viel Geistiges herausfinden.

[2.77.7] Ich sage euch aber, dass ebendieses Gebot, wie beinahe kein anderes, am meisten rein geistig ist. Ihr macht da große Augen; aber darum ist die Sache doch nicht anders. Damit ihr aber solches auf einen Hieb erschaut, so will ich nichts anderes tun, als dieses Gesetz nur mit etwas umgeänderten Worten sagen, wie es auch hier in diesem Lehrsaal vorgetragen wird, und ihr werdet die Fülle der Wahrheit sogleich erschauen. Wie also lautet es aber hier? Hört!

[2.77.8] Kinder! Gehorcht der Ordnung Gottes, welche ausgeht aus Seiner Liebe und Weisheit (d. i. Vater und Mutter), auf dass ihr lange lebt auf Erden unter Wohlergehen. Was ist langes Leben, und was ist dagegen ewiges Leben? Das „lange Leben“ bezeichnet das Leben in der Weisheit; und es wird „lang“ nicht die Dauer, sondern die Ausbreitung und die stets größere Mächtigwerdung des Lebens verstanden; denn das Wort oder der Begriff „Leben“ schließt ja schon für sich die ewige Dauer ein. Aber das Wort „lang“ bedeutet ja durchaus keine Dauer, sondern nur eine Ausbreitung der Lebenskraft, mit welcher das lebende Wesen stets mehr und mehr in die Tiefen des göttlichen Lebens langt, und eben dadurch sein eigenes Leben stets vollkommener, fester und wirksamer macht.

[2.77.9] Dieses hätten wir; aber das „Wohlergehen auf Erden“ – was besagt denn das? Nichts anderes als das Sich-zu-eigen-machen des göttlichen Lebens, denn unter der „Erde“ wird hier das Eigenwesen verstanden, und das Wohlergehen in diesem Wesen ist nichts anderes als das freie Sein in sich selbst nach der sich völlig eigengemachten göttlichen Ordnung.

[2.77.10] Diese kurze Erklärung genügt, um einzusehen, dass ebendieses Gesetz völlig rein geistiger Art ist. Wenn ihr es bei Muße genauer durchprüfen wollt, so werdet ihr es auf eigener Erde finden, dass es so ist. Also aber wird es auch hier praktisch den Kindern beigebracht, und das mit dem größten Nutzen. Da wir aber nun solches wissen, so begeben wir uns sogleich in den fünften Saal.

TAGS

Kein Kommentar bisher

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Letzte Kommentare