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39. Im Zustand der Furcht zeigt der Mensch seine Schwächen

(Am 8. Juli 1843 von 4 1/2 – 6 1/4 Uhr nachmittags.)

[2.39.1] Ihr sagt: Lieber Freund und Bruder! Auf dieser überaus stark durchsichtigen Rundtreppe ist es denn doch ein wenig fatal aufwärts zu steigen, denn es kommt einem ja gerade so vor, als so man sich in die freie Luft erheben möchte, und das Hinabsehen auf den stets tiefer zu liegen kommenden Boden wird im Ernst etwas schwindelerregend! Und wenn das Hinaufgehen schon so sonderbar ist, da wird das Zurückgehen sicher noch sonderbarer werden. – Ja, ja, meine lieben Brüder und Freunde, die Sache sieht wohl so aus und scheint eure Besorgnis zu rechtfertigen; aber dessen ungeachtet werdet ihr am Ende erfahren, dass sich alle die jetzt geschauten Verhältnisse so gestalten werden, dass ihr gar nicht achten werdet und nicht im Geringsten merken, mit welcher Leichtigkeit und Anmut wir da zurückkommen werden.

[2.39.2] Übrigens müsst ihr euch solches hinzumerken, dass die Höhen nur für denjenigen schwindelerregend sind, der sich fortwährend in der ebenen Tiefe befand; aber für beständige Bewohner der Höhen, und für diejenigen auch, die viel auf den Höhen zu tun hatten, sind sie das nicht im Geringsten sowohl in naturmäßiger als in staatlicher Hinsicht. So klimmt der Gebirgsbewohner und auch so mancher andere Höhenfreund über Wände und Steilen hinauf, deren Anblick einen beständigen Ebenlandsbewohner schon von fernehin in einen fieberhaften Zustand versetzt, während doch der Gebirgs- und Höhenbewohner jauchzend mit seinem Reise- und Steigapparat über die furchtbarsten Abgründe hinüberblickt.

[2.39.3] So auch, wenn ein Mann geringen Standes sich etwa in einer solchen Lage befindet, vor seinem Landesherrn zu erscheinen, und zwar an dessen prachtvollem Hof, mit welcher Furcht und Scheu naht er sich der Prachtwohnung seines Landesfürsten! Jede Staffel in derselben wird ihm glühender unter den Füßen, je mehr er sich demjenigen Gemach nähert, in dem gewöhnlichermaßen der Landesfürst sein Ohr leiht.

[2.39.4] Betrachten wir aber dagegen einen Minister oder einen hohen Feldherrn, besonders wenn er noch obendrauf ein bedeutender Günstling des Landesfürsten ist, und also auch das an und für sich unbedeutende Hofgesinde. Diese gehen sicher ohne die geringste Beklemmung zum Landesfürsten, und letztere, dieser Höhe wie angeboren angewöhnt, treiben nicht selten bübischen Mutwillen über jene Stufen, welche unserem schlichten Landmann gar so schwindelerregend und heiß vorgekommen sind.

[2.39.5] Ja selbst in bürgerlicher Hinsicht mangelt es nicht an solchen Beispielen; nehmen wir an einen schlichten wohlgebildeten jungen Mann, dessen Lebensverhältnisse ihm mit gutem Gewissen gestatten, sich ein ihm teures Weib zu nehmen. Er kennt ein Haus, und die Tochter des Hauses gefällt ihm überaus wohl; aber die Verhältnisse dieses Hauses überbieten die irdischen Vorteile des seinen um ein sehr Bedeutendes. Er weiß zwar, dass der Familienvater dieses Hauses ein sehr respektabler und geachteter, guter Mann ist; aber dessen überragende Verhältnishöhe flößt unserem Brautwerber so viel schwindelerregende Bedenklichkeiten ein, dass dieser sich kaum wagt, mit guter Hilfe verlässlicher Führer und Wegweiser die Verhältnishöhe seines erwählten Hauses zu besteigen.

[2.39.6] Da es aber dennoch sein muss, so muss er das Wagestück bestehen; aber wie wird es ihm, wenn er die Türschwelle seines verhängnisvollen Hauses betritt, von dem er sein Glück erwartet? Der Puls wird schneller wie beim Besteigen eines hohen Berges, der Atem kürzer, und sein ganzes Wesen geht bei der Annäherung der Tür, da der Hausvater und der Vater seiner Braut zugleich wohnt, in eine sehr stark schwingende Bewegung über; Furcht, Glaube, Hoffnung und Liebe sind in einem Knäuel untereinandergemengt.

[2.39.7] Anfangs bringt er kaum ein Wort heraus, oder er misst jede Silbe, bevor er sie ausspricht, um ja dadurch etwa nirgends eine Blöße zu zeigen, deren sich ein jeder Mensch so inkognito stets mehrerer bewusst ist. Warum denn aber? Weil der Mensch nirgends leichter, wie auch in gar keinem Zustand seine Schwächen und Blößen an den Tag legt, auch sogar seine Fehler, als wenn er sich im Zustand der Furcht befindet.

[2.39.8] Nehmt an einen Virtuosen, wenn er seiner Sache noch so gewachsen ist, aber dennoch sich einiger Stellen in seinem vorzutragenden Stück bewusst ist, dass sie ihm bloß unter zwei Ohren und Augen manchmal ein wenig misslungen sind, so wird er dieser Stellen wegen in eine Furcht versetzt, in welcher er nicht selten, da er derselben nicht Meister werden kann, eben diese etwas zweifelhaften Stellen, wie ihr zu sagen pflegt, verhaut. Also war hier die Furcht derjenige Zustand, in welchem unser Virtuose seine Schwächen an den Tag legte.

[2.39.9] Ein guter Fußgeher auf ebenem Land will gar nichts wissen von irgendeiner Schwäche seines Gehewerkes. Wenn es aber einmal heißt: Freund, du musst mit mir auf die Spitze jenes Berges; wirst du dich solches wohl getrauen? So wird unser guter Fußgeher wohl sagen: Was hältst du von mir? Ich sollte mich mit meinem Gehewerk über jene Bergspitze nicht wagen, der ich doch schon mehrere hundert Meilen Feldweges gemacht hab? – Aber es kommt auf den Ernst; unser guter Fußgeher kommt in seinem Leben zum ersten Mal auf solche bedeutende Höhe.

[2.39.10] Bei der Ersteigung einer sehr steilen Partie fangen seine Füße an zu schlottern; wenn er einen Schritt getan hat, so fängt er beim zweiten an zu zweifeln und mit sich sehr stark Rat zu pflegen, ob er ihn noch wagen sollte oder nicht. So aber der andere Freund ihm erst die hohe Spitze zeigt, da fängt unser guter Fußgänger völlig an zu zagen und lässt sich samt dem anderen den Sicherheitsstrick um den Leib schnüren.

[2.39.11] Was kommt denn hier heraus? Die Höhenfurcht hat die Schwächen in den Füßen unserem guten Fußgeher enthüllt, darum er selbst am Sicherheitsstrick jeden Schritt, den er tut, ja so sicher und wohl ausforscht und dabei dennoch stets in der Furcht ist, mit der leichtesten Mühe von der Welt einen Fehltritt zu tun. Also ist auch unser Brautbewerber; er hat sich in der gewöhnlichen Lebensfläche sehr wohl herumzutummeln verstanden; aber auf dieser ernsten Höhe, da es sich um die Sicherheit eines jeden Trittes handelt, heißt es auch jeden Schritt, also jede Silbe auf eine sehr genaue Waage legen, um, wie ihr zu sagen pflegt, aus der Pastete keinen Talgen zu machen.

[2.39.12] Wie es sich aber mit diesen drei beispielsweise aufgeführten irdisch menschlichen Standpunkten verhält, also verhält es sich auch entsprechendermaßen mit den geistigen.

[2.39.13] Der Schwindel als die Frucht der Furcht bleibt nicht aus; je höher man steigt, desto furchtsamer und behutsamer wird man in seinem Gemüt und somit auch desto glaubensscheuer.

[2.39.14] Seht, wenn ich mit euch nun sprechen möchte in der höchsten himmlischen Weisheitsform, so würdet ihr zu verzagen und zu verzweifeln anfangen und wäre keiner aus euch imstande, selbst bei der beherztesten Vornahme auch nur drei Zeilen niederzuschreiben.

[2.39.15] Ich aber gehe darum mit euch und rede darum vollkommen nach eurer Art, oder ich wandle auf eurem angewohnten Grund und Boden und erhebe euch nur kaum merklich nach und nach. Aber selbst bei dieser kaum merklichen Erhebung fängt euch schon ein wenig an zu schwindeln bei der Besteigung unseres sechsten Stockwerkes oder der siebten Galerie über diese etwas stark durchsichtige Treppe.

[2.39.16] Wenn aber unser den Landesfürsten besuchender Landmann sich eine Zeit lang mit eben dem sehr herablassenden Fürsten besprechen wird, da wird ihm der staatliche Höhenschwindel samt der ganzen Furcht vergehen, und er wird eine viel behaglichere Rückreise haben über die heißen Staffeln des Palastes, als sie zuvor hin zum Palast des Landesfürsten war.

[2.39.17] Der Höhenbesteiger wird auf der Spitze des Berges mutiger und schwindelfester, und der Rückweg wird ihm, wie ihr zu sagen pflegt, nicht selten einen wahren Spaß machen.

[2.39.18] Also auch unser Brautwerber, wenn er in die Erfahrung gebracht hat, dass er in seinem geliebten Haus einen festeren Boden gefunden hat, als er ihn erwartete, wird auch sicher einen ums sehr Bedeutende fröhlicheren Rückweg haben, als ihm der heiße Hinweg vorkam.

[2.39.19] Und seht, gerade so wird es auch uns ergehen; wir werden auch bis zur Erreichung der Vollhöhe dieses Gebäudes noch so manche Schwindelhöhe zu bestehen haben; aber die Vollhöhe wird dann alles ins Gleichgewicht setzen, und wir werden überaus frohen Mutes die Rückreise anzutreten imstande sein.

[2.39.20] Bei dieser Gelegenheit unseres belehrenden Gespräches haben wir auch unsere stark durchsichtige Treppe, wie ihr selbst bemerken könnt, ganz behaglich überschritten, und uns auf diese Weise eine jede Staffel zunutze gemacht.

[2.39.21] Nun aber befinden wir uns schon auf der siebten Galerie, oder im sechsten Stockwerk, und somit sage ich euch: Schaut hier alles recht behaglich und aufmerksam an; denn was ihr hier finden werdet, wird von noch viel höheren Interessen sein als alles, was wir bis jetzt gesehen und dann erörtert haben in der Art der Weisheit dieser Bewohner. Also, wie gesagt, auf diesem sechsten Stockwerk oder auf der siebten Galerie nehmt förmlich eure Augen in die Hand, beschaut alles wohl und gebt es mir dann kund, was ihr gesehen habt; und wir werden dann die Bedeutung sicher nicht verfehlen.

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