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29. Fortsetzung der Wanderung in gerader Linie. Überwindung von Hindernissen auf dem Weg

(Am 23. Juni 1843 von 4 3/4 – 7 Uhr nachmittags.)

[2.29.1] Da seht nur einmal hin in die etwas tiefer gelegene unübersehbar große Ebene, die nach links und rechts, so weit nur immer das Auge reicht, von diesem bewaldeten Gebirge begrenzt ist. Was erblickt ihr in dieser Ebene? Sicher nichts anderes als ich: in einer sehr tüchtigen Entfernung ragt eine staffelförmige Rundpyramide überaus hoch empor. Man kann von dieser Entfernung außer einem Brillantglanz noch nichts Näheres ausnehmen. Aber dessen ungeachtet verspricht schon dieser erste Anblick etwas unerhört großartig Erhabenes, darum wollen wir denn auch hurtig darauf lossteuern, um uns so bald als möglich in der völligen Nähe dieses erhabenen Prachtwerkes zu befinden. Seht, wir haben zwar keinen abgetretenen Weg, noch weniger eine Fahrstraße dahin; aber wenn ich diesen herrlichen Boden betrachte, welcher viel zarter und feiner aussieht als der allerfeinste Seidensammetstoff, da meine ich, braucht es keines abgetretenen Weges, sondern nur die Beobachtung der geraden Linie, und wir werden uns geistig schnellen Schrittes sobald dort befinden, wo wir sein wollen.

[2.29.2] Wisst ihr aber auch, was geistig genommen die gerade Linie bezeichnet? Die gerade Linie bedeutet oder bezeichnet den unwandelbar festen Willen, welcher durch keine noch so widrige Erscheinung auf was anderes abzulenken ist; und eben diese gerade Willenslinie soll auch hier gemeint sein.

[2.29.3] Ihr fragt zwar in euch, ob wir denn bei diesem Weg noch auf Hindernisse stoßen sollten, die uns die Erreichung des Zieles erschweren dürften? Das wird sich alles auf dem Weg zeigen. Bis jetzt ging es noch gut, und wir haben im Verlaufe unseres Gespräches schon eine so ziemliche Strecke zurückgelegt, und so ich hinblicke, da dieses außerordentliche Bauwerk sich befindet, da kann ich schon so manches genau ausnehmen, was ich ehedem von der Gebirgshöhe nicht imstande war.

[2.29.4] So kann ich nun schon recht gut ausnehmen, dass dieses außerordentliche Bauwerk aus zwölf Abteilungen besteht, die fast in der Art sich übereinander erheben, als wenn ihr auf der Erde ein ausgezogenes Fernrohr, natürlich von der allerriesenhaftesten Gattung, perpendikulär aufgestellt hättet, welches Fernrohr eben auch zwölf Züge haben müsste. Und wenn ihr die Sache so recht betrachtet, da werdet ihr bald mit leichter Mühe entdecken, dass ein jedes dieser zwölf Stockwerke aus lauter aneinandergereihten Säulen besteht, und seht ein jedes Stockwerk in einer anderen Farbe erglänzend.

[2.29.5] Aber wozu sich die Augen in die Ferne hin verderben? Wir werden das ganze Werk in der vollen Nähe ohnehin von Angesicht zu Angesicht betrachten können; aber gehen wir nur hurtig darauf los. Aber ich merke, dass ihr eure Augen auf einen nicht mehr fern von uns abstehenden ziemlich hohen Wall richtet. Das hätte ja so einen Anschein von einem bedeutenden Weghindernis und eines Abschnitzels [Ablenkung] von unserer geraden Linie, da einen Mauerbrecher wir nicht bei uns haben.

[2.29.6] Wenn die Mauer dieses Walles nach irdischem Maßstab kerzengerade aufsteigt und unterhalb kein Tor angebracht ist, da dürfte es freilich wohl einen kleinen Haken haben, die gerade Linie fortwährend beizubehalten, und doch dürfen wir sie nicht verlassen; denn im Geiste nur um eine Linie auf die Seite gerückt, will so viel sagen, als mit einem Augenblick diese ganze schöne Welt aus unserem Gesichtskreis verlieren. Aber wir sind ja noch nicht an der Mauer; daher den Mut nicht verlieren, und es wird sich die Sache vielleicht besser machen, als wir es erwarten.

[2.29.7] Ich bemerke aber nun auch vor dem Wall große und weitgedehnte Baumreihen, aus denen allerlei Säulen und Pyramiden emporragen. Es könnte da wohl sehr leicht geschehen, dass wir bei unserer geraden Linie auf einen Baum oder auf eine Säule stoßen und wären demnach genötigt, eines solchen Hindernisses wegen ein wenig von der geraden Linie abzubiegen.

[2.29.8] Ihr sagt: Wie wäre es denn, so wir uns geistigermaßen in die Luft emporschwingen möchten, und durch diese am leichtesten in gerader Linie hinziehen zu unserem großartigen Ziel?

[2.29.9] Ich sage euch: Auch dieses könnten wir tun; aber dadurch setzen wir uns einer doppelten Gefahr aus, diese unsere Welt sobald aus unserem Gesichtskreis zu verlieren, fürs Erste, weil ein solcher Aufschwung eben auch eine Verletzung der geraden Linie ist, und fürs Zweite dürfen wir ja so lange nicht unsere Füße von diesem Boden trennen, solange wir diese Welt beschauen wollen. Denn trennen wir unsere Füße vom Boden, so sinkt die ganze Welt unter uns in ihre erste unkenntliche Sterngestalt zurück. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als allen vorkommenden allfälligen Hindernissen mit fester Stirn zu begegnen.

[2.29.10] Nun seht, die Baumreihen hätten wir bereits erreicht. So weit als mein Auge in diesen Alleewald hineindringt, geht es überraschend geradlinig aus; aber dort recht tief darin erblicke ich etwas wie einen aufgerichteten Altar, und dieser Altar steht meines Erachtens gerade in der Mitte dieser Allee. Es macht aber nichts, nur mit fester Stirn darauf los, und es muss sich der Weg machen geradeso, wie wir ihn haben wollen, denn es wäre für einen Geist doch wohl traurig, wenn er sich von naturmäßigen Hindernissen sollte den Weg verrammen lassen.

[2.29.11] Nun, da sind wir schon am Altar. Fürwahr, dieses erste Monument zeigt schon, wenn auch noch in einem entfernten Maßstab, von welch einer unbeschreiblichen Pracht erst das Hauptwerk sein muss.

[2.29.12] Seht, dieser Altar hat etwa eine Höhe von einer Klafter. Er besteht aus lauter Rundstäben, welche von einem überaus glänzenden Material angefertigt sind, welches aber sicher auf keinem anderen Weltkörper in dieser Eigentümlichkeit vorkommt. Da seht nur einmal die Stäbe an; sie sehen ja nicht einmal fest aus, sondern haben das Ansehen, als wären sie lauter abwärts schießende Wasserstrahlen, welche aber ohne sogenannten Seitenspritzer abwärts in goldene Trichter schießen. Denn die flammende Strahlenbewegung in diesen Rundstäben zeigt beinahe solches an, als wären diese Stäbe nichts als nur runde Wasserstrahlen, welche etwa durch eine Mittelsäule von irgend her zuerst aufwärts, und hier, wie wir es sehen, nach den Regeln der Wasserbaukunst abwärts fallen. Um sich aber zu überzeugen, greifen wir mit den Händen nach den Stäben – seht, das Ganze ist nur eine Eigentümlichkeit des Materials. Dieses hat in sich solche flammende Bewegung, dass es scheint, als wäre es ein reinstes fließendes Wasser; an und für sich aber ist es fest, als wäre es ein Diamant.

[2.29.13] Und da seht über den Stäben die herrlich eingeländerte Rundtafel, wie sie strahlt, als hätte man im Ernst eine kleine Sonne auf diese aneinandergereihten Stäbe gelegt, welche zuunterst in goldene Trichter einmünden, welche Trichter aber ebenfalls wieder in eine rot und blau schillernde allerherrlichste runde Kristallplatte eingeschichtet sind. Fürwahr, diesen Altar auf diesem schönen Rundplatz, welcher von den allerherrlichsten Bäumen in der schönsten Ordnung umfriedet ist, deren Äste zuoberst wie riesige Arme zusammen greifen, zu sehen, ist an und für sich schon so etwas Bezauberndes, dass man es mit der größten Zufriedenheit eine geraume Zeit betrachten möchte, wenn man noch dazu den überherrlichen grünen Sammetboden bedenkt und die Stämme der Bäume, welche das Ansehen haben, als wären sie lauter mächtige blaue, halbdurchsichtige Rundsäulen, an denen nicht der allerleiseste Makel zu entdecken ist.

[2.29.14] Was sagt ihr denn zu dieser ersten Pracht? Ich muss es aufrichtig gestehen, dass mich diese erhabene Einfachheit mehr anspricht und fesselt, als alle schon vorher geschauten Herrlichkeiten dieser Welt. Wir vergessen bei der Betrachtung dieser Herrlichkeit aber ja ganz, dass wir noch weiterzugehen haben.

[2.29.15] Aber die gerade Linie, wie werden wir diese heraus bekommen?

[2.29.16] Sollten wir etwa diesen überherrlichen Altar möglicherweise niederrennen? Fürwahr, so etwas wäre beinahe nicht übers Herz zu bringen, und besonders wenn man obendrauf noch bedenkt, dass so ein Werk viele Arbeit und vielen Fleiß von Menschenhänden dieser Welt vonnöten hatte und dass es sicher zu einem von dieser Menschheit geheiligten Werk dasteht. Und dazu ist noch das Zerstören überhaupt am allerentferntesten von der göttlichen Ordnung abstehend.

[2.29.17] Was werden wir demnach hier tun? Ihr sagt: Als Geister durch die Materie rennen, was wird es denn sein? Ist doch der Herr auch durch die verschlossene Tür zu Seinen Aposteln gekommen.

[2.29.18] Ich sage euch: Das ist zwar wahr; aber wir sind nicht Herren, sondern Diener und Knechte des Herrn, diese aber dürfen nicht alles tun, was der Herr getan hat, außer der Herr wollte es. Daher weiß ich mir nun schon einen Rat. Wir werden uns an den Herrn der Herrlichkeit wenden, und zwar in der Liebe unseres Herzens, und ich bin überzeugt, es wird sich die gerade Linie gleich herstellen.

[2.29.19] Nun seht, ich habe solches getan und ihr nun in mir; und seht, da eilt schon aus dem Hintergrund ein männlich Wesen hervor, rührt soeben den Altar an, und dieser teilt sich bei der Mitte wie auseinandergehend, und wir können nun unsere Linie weiter verfolgen.

[2.29.20] Ihr fragt nun wohl, ob dieser Altar im Ernst solch eine mechanische Vorrichtung habe, dass er für ähnliche geradlinige Reisezwecke allzeit auf gleiche Weise teilbar ist? Ich sage euch: Für den Herrn ist alles in einem allerzweckmäßigsten Maße eingerichtet, die Menschen dürfen eine Sache noch so fest miteinander verbinden, der Herr aber ist der Werkmeister des Stoffes. Der Mensch weiß wohl um die Glieder seines Werkes, und wie diese zu trennen sind, aber der Herr kennt die Glieder des Stoffes und weiß auch, wie diese zu trennen sind.

[2.29.21] Daher braucht ihr zur Beobachtung der geraden Lebenslinie nichts als die stets wachsende Liebe zum Herrn, und ihr werdet durch Felsen, Feuer und Wasser also wandeln können, als hättet ihr mit gar keinem Hindernis zu kämpfen.

[2.29.22] Ich aber mache euch noch obendrauf aufmerksam: Habt recht wohl Acht auf alle die Erscheinungen, die uns auf diesem Weg aufstoßen werden, und ihr werdet am Ende so manche Verhältnisse eurer Welt darin wie in einem großartigen Zauberspiegel erkennen. Nun aber steht vor uns schon wieder eine überaus weitgedehnte offene Allee in gerader Linie, und wir können daher wieder mit gutem Gewissen vorwärtsschreiten.

[2.29.23] Ihr möchtet wohl gern wissen, was nun mit dem geteilten Tempel geschehen wird. Wird er sich wieder ergreifen, oder wird er also geteilt verbleiben? Ich aber sage euch: Versteht mich wohl, und lasst das, was hinter uns ist; denn wir haben vor uns noch gar vieles und bei weitem Größeres. Wenn wir aber am Hauptziel sein werden, dann werden wir ohnehin von der Höhe einen allgemeinen Überblick erhalten. Und so lasst uns weiterziehen.

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